Advocatus Diaboli
Vertrauen, vielmehr stellen sie mich zunächst auf die Probe. Ich weiß nicht, weshalb Euer Gatte über sein Familienleben gelogen hat und weshalb er mir diese verschlüsselten Texte gegeben hat. Vielleicht wollte er meine Talente erproben? Wollte er sich vergewissern, dass ich der Mann war, den man ihm empfohlen hatte, bevor er sich ernsthafter mir gegenüber öffnen konnte?«
So sehr Chênedollés Frau auch in ihn drang und zu verschiedenen Dingen befragte, Benedetto wollte ihr nicht mehr verraten.
»Ich weiß nichts.«
Er beobachtete den Diener, der auch dieses Mal unbeweglich und stumm blieb.
Enttäuscht erhob sich die Witwe.
»Es kommt nicht mehr in Frage, dass ich Rom verlasse«, erklärte sie. »Ich will herausfinden, wer für das schändliche Ende meines Gemahls verantwortlich ist. Wir werden uns wiedersehen.«
Sie gab dem Diener ein Zeichen. Dieser legte ein paar Münzen vor Gui auf den Tisch.
»Für den Schaden an Eurer Tür«, stieß die Frau verächtlich hervor.
Sie trat in die Kälte hinaus und verschwand mit ihrem Gefährt.
Sogleich machte Benedetto sich auf die Suche nach dem Schriftstück, das Chênedollé unter seinem Schreibkasten vergessen hatte und dessen Erwähnung er vor wenigen Minuten tunlichst unterlassen hatte.
Er setzte sich an seinen Arbeitstisch und öffnete es.
Er überflog die ersten Seiten, ohne etwas Auffälliges zu bemerken; er sah nichts weiter als Listen von Waren, die dem Kaufmann von einem Venezianer gesandt worden waren, der Chênedollés Witwe zufolge nicht existierte, im Rahmen eines Geschäfts, das ebenfalls ihr zufolge nie zustande gekommen war.
Mit einem Mal begriff Gui den Trick.
Er versah sich mit einem Rechenschieber, auf dem arabische Ziffern und positive und negative Zahlenwerte geschrieben standen.
Mehr als fünf Stunden versenkte er sich in diese Seiten, beinahe ohne je den Blick davon zu lösen. So verging der Tag bis zum Abend, er zündete seine Kerzen an und ignorierte alle, die an seine Tür klopften.
Am Ende stieß er einen langen, bewundernden Pfiff aus.
So lächerlich chiffriert die ersten von Chênedollé vorgelegten Dokumente waren, die von einer kindlichen Beherrschung der Geheimcodes zeugten, welche absichtlich ins Auge sprangen, in diesem wurde eine vielschichtige Verschlüsselungstechnik von außergewöhnlicher Komplexität benutzt, deren Handhabung uneingeschränkte Bewunderung verdiente.
Offenbar hatten die ersten Dokumente allein den Zweck gehabt, ihn auf die richtige Spur zu bringen, und dieses geschickt unter seinem Schreibkasten vergessene Dossier sollte der Wachsamkeit des Dieners entgehen, der den Kaufmann begleitete.
Erstens ließ Chênedollé Benedetto Gui damit wissen, dass er sich verfolgt und überwacht fühlte und um sein Leben fürchtete und dass er keine andere Möglichkeit sah, sich an ihn zu wenden.
»Immer der Diener«, dachte Gui.
Zweitens bekräftigte er in diesem verschlüsselten Text seinen Wunsch, aus der Stadt zu fliehen und nichts mehr zu unternehmen, das sein Leben oder das seiner Frau in Gefahr bringen konnte.
»Die Witwe hat nicht gelogen.«
Drittens erwähnte er das Ableben der Kardinäle Portal von Borgo, Philonenko, Othon von Biel und Benoît Fillastre im Dezember. Er gab zu verstehen, dass ihr Tod weder ein Unfall war noch mit der Wahl des Papstes in Zusammenhang stand, wie manche glauben machen wollten. Zu dieser Liste mit vier Namen fügte er die von Henrik Rasmussen und Rainerio hinzu!
Benedetto musste sich den Text mehrmals vornehmen, bevor er sicher war, dass er richtig dekodiert hatte: »Haltet die Augen offen und folgt der Spur Rainerios …«
Verblüfft ließ Benedetto sich in seinem Stuhl nach hinten sinken und umschloss sein Kinn mit Zeigefinger und Daumen.
»Was hat Rainerio mit dem Fall Chênedollé und seiner Ermordung zu tun? Wozu diese verrückten Vorsichtsmaßnahmen?«
Er sprang auf und rief einen Jungen aus dem Viertel herbei, den jungen Matteo, Violas Großneffen, dem er Lesen und Schreiben beigebracht hatte. Er gab ihm die Münzen, die Chênedollés Frau hinterlassen hatte. Weniger als eine Stunde später stand Zapetta, obwohl es bereits Nacht war, wieder vor Gui, glücklich und beunruhigt zugleich darüber, dass sie so bald einbestellt wurde.
»Woher hast du von mir erfahren?«, fragte Benedetto sie. »Kannte dein Bruder meinen Namen? Hat er dir irgendwann von mir erzählt?«
»Nein, nie.«
»Wer dann? Du hast mir erzählt, man hätte dir gesagt, ich könnte jedes Problem
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