Advocatus Diaboli
Bistum verkündet, die Bewohner würden einfach dafür belohnt, dass sie dank Pater Evermacher nie für die Verderbnis bringenden Verlockungen der Ketzer empfänglich gewesen seien.
Das war indes unverkennbar nur ein Mittel, um Zeit zu gewinnen; die Führung in Rom wusste nicht, wie sie die Ereignisse in Cantimpré deuten sollte.
»Ein Kindesraub«, murmelte Tagliaferro. »Dergleichen kommt leider allzu häufig vor. Manche Unglückliche werden ihren Eltern entrissen, damit sie zur Prostitution oder zum Diebstahl abgerichtet werden, andere werden in schwarzen Messen geopfert, die Asche ihres Körpers wird für satanische Hostien verwendet, ihre Zunge wird mit Wiedehopfblut vermischt, und die Nabelschnüre werden zu Glücksbringern. Es gibt einen teuflischen Handel mit Kindern beiderlei Geschlechts, die vor der Taufe gestorben sind. Unfruchtbare Frauen vornehmer Herkunft lassen Säuglinge rauben und geben sie als die ihren aus, damit sie nicht länger Gefahr laufen, verstoßen zu werden. Andere Mütter, deren Kinder früh verstorben sind, lassen fremde Kinder entführen, die den ihren
täuschend ähnlich sind, um so ihre Ehemänner hinters Licht zu führen und ihren Einfluss zu wahren.«
»Aber die Kinder von Cantimpré sind nicht wie die anderen Kinder der Region«, wandte Pater Aba ein, der bei dieser Aufzählung von Schreckensgeschichten erbleicht war. »Sie werden durch ein Wunder geboren.«
»Das hat vielleicht erst recht die Aufmerksamkeit einiger furchtbarer Missetäter erregt. Was gedenkst du zu tun?«
»Ich möchte Zugang zu Euren Archiven erhalten.«
Tagliaferro zog die Augenbrauen hoch.
»Du bist Franziskaner, Guillem. Unsere Orden sind nicht mehr wirklich miteinander verbündet. Ich hätte Mühe, eine solche Gunst zu erwirken.«
»Es muss sein. Mir zuliebe!«
Ursprünglich war es die Bestimmung des Dominikanerordens gewesen, zu predigen, Gottes Lob zu verkünden und Segen zu erteilen. Inzwischen aber wirkten die Dominikaner als Vermittler bei Zwistigkeiten zwischen Adligen, überwachten die Umsetzung der apostolischen Breves, ersetzten die Autorität der Bischöfe, archivierten die Protokolle der peinlichen Befragungen, sammelten Denunziationen und spürten die Ketzer auf, ganz zu schweigen davon, dass sie über das vorschriftsmäßige Verhalten ihrer Mitbrüder wachten. Ihre Rolle als Inquisitoren machte sie bei den Gläubigen verhasst, die sich über nichts so sehr freuten, als wenn ein Dominikaner von den Bischöfen bestraft wurde. Von eben jenen Bischöfen, die sie gestern noch verachtet hatten!
Die Archive des Dominikanerkonvents von Narbonne füllten siebzehn Säle und drei Keller. Die an das ursprüngliche Haus angrenzenden Gebäude waren von dem Bettelorden aufgekauft worden, damit darin diese Kathedrale aus Papier Platz fand, die jedes Jahr unter seiner Herrschaft weiterwuchs. Hier wurde alles aufbewahrt:
vom Geständnis der unrechtmäßigen Steuereinziehung des Grafen von Toulouse bei den Katharern bis zur beschämenden Anprangerung der Sitten einer Bäckersfrau, die ihren Ehemann gehörnt hatte; die kleinste Aussage, die Zusammenfassung einer Untersuchung oder die Misshandlungen eines Verdächtigen wurden in diesen Regalreihen festgehalten.
Selbst zu Zeiten des römischen Kaiserreichs war es niemandem gelungen, eine so ungeheure Fülle von Besonderheiten über die Bevölkerung zusammenzutragen; niemand zuvor hatte ein Instrument der Beeinflussung bis zu einem solchen Grad an Effektivität entwickelt.
Die Archive wurden von Wachen beschützt, die sich im Labyrinth der Gänge verteilten, sowie durch mächtige Eisenstangen, die an den Steinkreuzfenstern angebracht waren.
Schließlich gab Jacopone Tagliaferro der Bitte Pater Abas statt.
Der Priester von Cantimpré drang in dieses Labyrinth ein und traf dort nur auf sieben Personen: zwei Archivare im engeren Sinne, drei Kopisten und die zwei Bibliotheksgehilfen. Diese Bibliotheksgehilfen waren Frauen: Schwester Dominique und Schwester Sabine. Diese Wächterinnen mit ihren Argusaugen hatten ein einzigartiges Klassifikationsverfahren geschaffen und waren, wie es hieß, fast schon selbst zu den Archiven von Narbonne geworden.
Sie waren klein und weiß gekleidet und glichen sich wie Zwillinge. Trotz ihrer bleichen Gesichter, die nur selten die Sonne sahen, hatten beide scharfe und hellwache Augen. Pater Aba, der ihnen zum ersten Mal begegnete, konnte weder ihr Alter schätzen noch unterscheiden, welche Sabine und welche Dominique
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