Advocatus Diaboli
Aba bat den Bruder an der Pforte darum, die kleinen Findelkinder besuchen zu dürfen, indem er vorgab, in seiner Gemeinde sei ein Kind verschwunden. Man gewährte ihm Einsicht in das Aufnahmeverzeichnis des Waisenhauses. Doch der Priester fand darin nur wertlose Angaben über das Datum der Aufnahme sowie die Größe und das Gewicht der Kinder. Einigermaßen überrascht
stellte er indessen fest, dass man hier mit Waisen auch die Verrückten und die Dirnen zusammenpferchte und dass erst ein Erlass aus jüngster Zeit die fünfzehn Leprakranken, die vormals hier dahinsiechten, aus den Mauern der Stadt verbannt hatte.
Ein Chorherr führte ihn in den überdachten Klosterhof, in dem die Findelkinder lebten.
»Die Säuglinge, die auf dem Vorplatz unseres Heims abgelegt werden, bleiben nur kurze Zeit bei uns«, erklärte er. »Wir geben die Jungen an die Abtei von Cuissy weiter, wo sie zu guten Prämonstratensern erzogen werden, und die Mädchen an den Klarissenorden, wo sie unter dem Schutz des Kreuzes heranwachsen. Für die älteren Waisen versuchen wir, Lehrstellen in der Stadt oder bei wandernden Handwerksgesellen zu finden. Wenn uns das nicht gelingt und wenn den Kindern ein klösterliches Leben zu sehr widerstrebt, nun, mein Gott, dann setzen wir sie wieder auf die Straße; danach kümmert sich der Teufel um sie …«
Er begleitete Pater Aba in einen Saal, in dem sich an die sechzig Kinder aller Altersklassen und beiderlei Geschlechts zusammendrängten. Der Klosterhof hatte früher für fürstliche Bankette gedient; die getünchten Bögen und die kunstvoll gemeißelten Pfeiler kontrastierten scharf mit dem Elend, das nun dort herrschte. Das Tageslicht drang durch Spitzbogenfenster mit massiven Fensterkreuzen ein, die höher als die Kinder waren.
»Möget Ihr dem einen oder anderen dieser Entrechteten einen Namen und eine Familie zurückgeben«, sagte der Chorherr.
Die Kinder verstummten und wandten ihre Blicke dem Neuankömmling zu. Seine schwarze Augenbinde und seine Narben beeindruckten sie. Doch dieser Moment des Stillhaltens dauerte nicht lange: Gleich darauf rannten sie los, klammerten sich an seine Kleider, redeten auf ihn ein und flehten ihn an, er möge sie mit sich nehmen. Einige nutzten das Durcheinander, um seinen Gürtel oder seine Jagdtasche zu durchsuchen. Der Chorherr musste
eine Gerte schwingen, um die entfesselte kleine Bande zurückzudrängen.
Gerührt und erschüttert von so viel Not dachte Pater Aba an seine Kinder in Cantimpré, denen er kleine Lebensweisheiten beigebracht hatte.
Ihm war, als wäre diese schmerzliche Erinnerung bereits tausend Jahre alt …
Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, holte er seine in Narbonne kopierte Liste mit den Namen der Verschwundenen hervor und begann sie aufzurufen.
Jedes Mal reklamierten alle Jungen und alle Mädchen unweigerlich den vorgelesenen Namen für sich. Mitten in das allgemeine: »Ich! Ich!« hinein fragte Aba regelmäßig: »Aus welchem Dorf kommt dieses Kind?«
Schweigen.
Pater Aba fand keinen einzigen Vermissten. Dabei hatte er doch vermutet, dass unter den zahlreichen verschwundenen Kindern, auf die die Schwestern Dominique und Sabine ihn hingewiesen hatten, einige sich auch nur verirrt hatten oder ausgerissen waren und am Ende auf dem einen oder anderen Umweg schließlich in der am dichtesten bevölkerten Stadt der Grafschaft gestrandet sein mussten.
Niedergeschlagen verließ er den Klosterhof.
Doch als er sich auf dem Weg zum Ausgang des Waisenheims bereits dem Portal näherte, blieb er plötzlich stehen und machte kehrt.
Wieder wandte er sich an den Bruder in der Pförtnerloge und bat ihn, die Register einsehen zu dürfen. Er wollte die Liste der Kinder einsehen, die von ihren Familien wiedergefunden und legal aus dem Heim genommen worden waren.
Der Chorherr, der ihn in den Klosterhof begleitet hatte, ging die Unterlagen über diese Fälle aus den vergangenen zwei Jahren holen.
Kurz darauf vertiefte Pater Aba sich in das Studium dieser Blätter.
Onkel, Muhmen, Mütter oder Patenonkel hatten hier glücklich ihre Kleinen wiedergefunden. Manche waren auf den Straßen verloren gegangen, andere auf den Feldern, wieder andere waren entführt worden oder davongelaufen. Junge Ausreißer wurden von ihren herrischen Vätern im Waisenhaus von Toulouse wieder eingefangen.
Aba erkannte vier Namen wieder, die er in den Archiven von Narbonne notiert hatte, doch sie stimmten nicht mit den Wunderkindern überein, die Jeanne Quimpoix ihm genannt
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