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Äon

Äon

Titel: Äon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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ein Gespenst, nicht mehr der frischgebackene Generalleutnant Pawel Mirski, sondern ein Fremdling aus den Tiefen der dritten Kammer.
    Aberglaube. Eine unheimlich einflußreiche Kraft bei den Soldaten.
    Nachdem er, der alten Pflicht nachkommend, eine Woche mühsam das Regiment geführt hatte, kehrte er also in die Bibliothek zurück. Bislang hatte er sich gefürchtet, diesen Raum wieder zu betreten, weil er Angst hatte, die drei politischen Offiziere würden ihm dort auflauern und ihn noch mal erschießen.
    Aberglaube.
    Er hatte gewartet, bis alle – zunächst ein chinesisches Paar und dann der russische Unteroffizier Rodenski – die Räume verlassen hatten. Erst dann hatte er sie betreten.
    Und sich die Kehle aus dem Hals geschrien.
    Er saß auf einem Platz und griff zur Schaltung, öffnete den Deckel. »Recht«, verlangte er nach Betätigung der Datensäule. »Recht in einer verlassenen Stadt.«
    Die Bibliothek erbat nähere Angaben, um die gewünschte Auskunft abzugrenzen.
    »Mord«, sagte er.
    Das Material war umfangreich. Mord war ein Verbrechen, auf das psychologische Bewertung und notfalls Persönlichkeitsumbildung stand.
    »Und wenn niemand da ist, der den Täter bestraft?«
    Es handelt sich nicht um eine Strafe, erläuterte die Stimme, sondern um eine Korrektur, eine Resozialisierung.
    »Und wenn keine Polizei, keine Richter, Gerichte und Psychologen da sind?«
    Verdächtigte können neunzehn Tage festgehalten werden. Wenn diese Zeit verstreicht, ohne daß Anklage erhoben oder ein Urteil gesprochen wird, ist der Verdächtigte der Obhut einer Reintegrationsanstalt zu übergeben.
    »Und wenn eine solche Anstalt nicht vorhanden ist?«
    Der Verdächtigte muß sich verpflichten, zur anzuberaumenden Verhandlung zu erscheinen, und ist in die Freiheit zu entlassen.
    »Und wo wird er entlassen?«
    Am Ort der Ergreifung, wenn nichts anderes verfügt ist.
    »Wo wird er festgehalten?«
    Falls er in einem entsprechend großen Gebäude mit eigener medizinischer Notfallversorgung festgenommen wird…
    Er sah als Beispiel dafür einen Teil der Bibliothek hinter einer nahtlos eingepaßten Tür: zwei Räume, vollgestopft mit Gerät.
    … dann wird er medikamentös ruhiggestellt, bis die Behörden ihn abholen oder neunzehn Tage vergangen sind. Medizinische Werker übernehmen im Notfall polizeiliche Funktionen.
    Er hatte noch zwei Tage.
    Mirski kehrte in die vierte Kammer zurück, wo er für ein paar Stunden wieder den Kommandanten spielte. Er ging zu einer Begegnung mit Hoffman und Rimskaya zur Fortsetzung der Gespräche über die »Neubesiedlung« der Städte in den Kammern zwei und drei.
    Dann schlich er sich davon, schnappte sich ein AKV und kehrte in die dritte Kammer zurück. Fünf Leute waren in der Bibliothek: Rodenski wieder und vier NATO-Angehörige, darunter ein US-amerikanischer Mariner. Mirski wartete geduldig, bis alle gegangen waren, und betrat die Bibliothek dann mit dem Gewehr in der Hand.
    Er hatte den politischen Offizieren eine Chance gegeben. Ließe man sie frei laufen, würden sie von neuem zuschlagen. Er nahm sich vor, in den nächsten zwei Tagen in der Bibliothek auf sie zu warten…
    Nach Stunden – die Bibliothek war leer geblieben – wurde ihm klar, daß sein Plan hinfällig war. Die Bibliothek würde nicht lange leer bleiben. Er mußte die Exekution heimlich ausführen, denn sonst hätte es keinen Sinn. Er mußte die drei politischen Offiziere zuverlässiger töten, als sie ihn getötet hatten, denn sonst würden sie wiederhergestellt, während er neunzehn Tage festgehalten würde, woraufhin das Ganze von vorne anfinge: ein brutaler Kreislauf des Irrsinns, der selbst die Phantasie eines Gogol überstiege.
    Er ging zur Wand, hinter der die drei politischen Offiziere im Koma lagen, und richtete das Gewehr auf die Sitzreihen an der Nordseite.
    »Ich bin nicht der gleiche, den ihr umgebracht habt«, sagte er. »Warum sollte ich Rache nehmen?«
    Auch wenn er glaubte, der gleiche Mensch zu sein, ließ sich dieser Umstand als Vorwand gebrauchen. Nun könnte er tun, was er seit Jahren tun wollte. Vielleicht war diese Einsicht, diese Klarheit zustandegekommen durch die Ausschaltung irgendeines irrationalen Teils seines Denkens, was einen reineren, reiferen Impuls freisetzte.
    Mirski hatte immer nach den Sternen greifen wollen, aber nicht um den Preis seiner Seele. Und ein sowjetisches System – selbst in gemäßigter Form, wie er es hatte errichten wollen – würde immer bedeuten, sich mit Leuten wie

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