Äon
Lanier war ihr Avatar. [viii]
»Rimskaya ist halb Russe«, fuhr Lanier fort. »Seine Großmutter ist als Witwe eingewandert, und ihr Name wurde in den amerikanischen Einwanderungsdokumenten auch auf den Sohn übertragen. Rimskaya spricht fließend Russisch. Manchmal springt er als Dolmetscher zwischen den Russen und uns ein.«
Das Brummen des Zugs wurde etwas lauter, als sie in die Nordkappe der vierten Kammer eintauchten.
Die fünfte Kammer war dunkler als die bisher besichtigten Teile des Steins. Eine bleigraue Wolkendecke überspannte die obere Atmosphäre des Zylinders und verschluckte damit das halbe Licht der Röhre. Unter den Wolken lag eine Wagner-Szenerie mit kahlen Bergen ausgebreitet, die an schartige Anthrazitbrocken mit dunkel schillernden Hematiteinschlüssen erinnerten. In die Berge schnitten sich schluchtartige Täler, eingesägt von Wasserfällen, die in muntere Wildbäche stürzten. In Richtung Mitte des Kammerbodens nahmen die Felsen entstellte Formen an; da waren Bögen, schartige Würfel, Pyramidenstümpfe und Dämme aus aufgeschichteten Plattenscherben.
»Was war das denn?« fragte Patricia verblüfft.
»Eine Art Mine, glauben wir, im Tagbau. Unsere beiden Geologen – den einen, Robert Smith, hast du getroffen – sind der Ansicht, die fünfte Kammer blieb unvollendet, als die übrigen Kammern ausgehöhlt wurden. Man ließ sie wegen der Rohstoffe so, die abgebaut wurden. Und dies sind die davon übriggebliebenen Narben.«
»Hübsch für einen Liebhaber alter Gruselfilme«, bemerkte Patricia. »Gibt’s hier auch ein Draculaschloß?«
Es fiel kein weiteres Wort mehr auf der kurzen Fahrt durch den nächsten Tunnel in die sechste Kammer. Als das Brummen schriller wurde und Licht in den Tunnel schimmerte, stand Lanier auf und sagte: »Endstation.«
Der unterirdische Bahnhof war höhlenförmig angelegt aus blanken, rötlichen Betonplatten und grauschwarz-marmoriertem Asteroidengestein. Der Bahnsteig war mit Linien versehen, als hätten hier einmal lange Warteschlangen angestanden.
»Ein ehemaliger Arbeiterbahnhof«, erklärte Lanier. »Als die sechste Kammer umgebaut wurde, stiegen die Arbeiter hier aus. Das war vor vielleicht sechshundert Jahren.«
»Seit wann ist der Stein unbewohnt?«
»Seit fünf Jahrhunderten.«
Ober einen Aufgang kamen sie in ein Gebäude, das fast nur aus dicken, transparenten Scheiben bestand, so daß sich von hier aus ein ausgezeichneter Blick über die sechste Kammer bot.
Der Talboden war überhäuft mit geometrischen Körpern wie Zylindern und Würfeln und hochkant aufgeschichteten Rundscheiben, was insgesamt an ein überdimensionales Schaltbild erinnerte. Unmittelbar vor dem Bahnhofsgebäude begann eine Formation kugeliger Tanks, die in einer Linie zu einer fernen Wand marschierten. Die Wand war mindestens hundert Meter und die Tanks halb so hoch. Zwischen den Kugeltanks und einer Reihe gekippter Zylinder klaffte, unters Niveau des Bahnhofe reichend, eine gewaltige Rinne mit glänzendem Wasser. Den Kanal säumten Rohröffnungen und gigantische Pumpanlagen. Über allem zogen dichte dunkle Wolken, aus denen immer wieder Regenschauer oder Schneegestöber hervorbrachen. Irgendwo war ein ständiges Pulsieren, das man weniger hörte als fühlte – wie das Infraschall-Knarren vorüberziehender Berge oder das Knirschen des tiefen Meeresbodens.
Als Patricia den Blick durch Wolkenschichten schräg nach oben richtete, konnte sie verschwommen den gegenüberliegenden Boden der Kammer ausmachen, der mit einem Flickenteppich eigenartiger Maschinerie bedeckt war.
»Keine beweglichen Teile in der ganzen Kammer außer den großen Pumpen, deren Zahl sich in Grenzen hält«, erklärte Lanier. »Die Erbauer setzten auf einen integrierten Wetterzyklus. Es fällt Regen, der sich erwärmt und über Kanäle in flachen Teichen sammelt, dort verdunstet und Wärme mit nach oben trägt, wo er vom Regelsystem in der Atmosphäre, dessen Funktionsweise wir noch nicht verstehen, wieder abgeschieden wird.«
»Und was soll das?«
»In der ursprünglichen Planung des Steins war in der sechsten Kammer noch eine Stadt gedacht. Aber die Erbauer hatten festgelegt, daß der Stein nur mit drei Prozent g beschleunigt werden könne. Unmittelbar vor Ausstattung des Steins – und vor Abschluß der Aushöhlungsarbeiten – fanden sie eine Möglichkeit, den Stein bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit zu beschleunigen. Die Methode dahinter war aufwendig und teuer, schenkte dem Stein allerdings
Weitere Kostenlose Bücher