Äon - Roman
Dämon besessen ist und es mir gelingt, ihn auszutreiben, versucht er vielleicht, sich in einem anderen Menschen in der Nähe niederzulassen.«
»Bitte gehen Sie«, wandte sich Giorgesi an den Bischof und die anderen. »Ich gebe Ihnen anschließend Bescheid.« Er wartete, bis Munari und die vier übrigen Männer das Zimmer verlassen hatten und schloss dann die Tür.
Der Junge hatte überhaupt nicht reagiert. Wie gelähmt lag er da, starrte an die Decke und beobachtete Gottes Hand. Gabriel trat zum Bett und sah sich Raffaeles Gesicht aus der Nähe an. Er wirkte entspannt, der Blick entrückt. Die Pupillen waren ein wenig geweitet.
»Was haben Sie ihm gegeben?«, fragte Gabriel.
»Ein Beruhigungsmittel«, antwortete der päpstliche Berater. »Wir wussten nicht, womit wir es zu tun hatten, und wir wollten kein Risiko eingehen. Die Ärzte meinten, es könnte nicht schaden.«
Gabriel nahm eine Stiftlampe und leuchtete dem Jungen in die Augen. Die Pupillen veränderten sich nicht. »Das Sedativ ist nicht der Grund für seinen derzeitigen Zustand.«
Er kehrte zum Tisch zurück, nahm ein silbernes Kruzifix und die Flasche mit dem Weihwasser. Seine beiden Assistenten hatten sich Kreuze umgehängt, und einer von ihnen, Luca, trat mit einem alten Buch zum Kopfende des Bettes. Als Gabriel ihm zunickte, begann er damit, leise ein altes lateinisches Gebet zu rezitieren. Der zweite Assistent, der recht kräftig gebaute
Vittorio, beobachtete den Jungen und hielt sich bereit. Seine Aufgabe bestand darin, ihn zu bändigen, wenn sich der Dämon in ihm zur Wehr setzte. Dämonen konnten selbst dann enorme Kraft entfalten, wenn sie im Körper einer eigentlich schwachen Person steckten.
Gabriel wartete, aber auf die gemurmelten Worte des lateinischen Gebets zeigte Raffaele nicht die geringste Reaktion. Er bedeutete seinem Assistenten, weiterhin vorzulesen, näherte sich mit Kruzifix und Weihwasser und bemerkte, dass Ignazio Giorgesi so klug war, abseitszustehen und zu schweigen. Er nahm das Kruzifix, berührte Raffaele damit am Arm und legte es ihm auf die Stirn. Der Junge zuckte nicht zusammen, und es blieben keine Flecken oder andere Male zurück. Gabriel betupfte ihn mit dem Weihwasser - genauso gut hätte er ganz normales Wasser verwenden können.
»Es steckt kein gewöhnlicher Dämon in ihm«, sagte Gabriel nachdenklich. »Gottes Antagonisten hätten auf die Präsenz des Heiligen reagiert.« Er berührte den Arm des Jungen, dann das Gesicht. »Kalte Haut … Er ist wie in Trance.«
Er trug die Flasche mit dem Weihwasser zum Tisch zurück, behielt das Kruzifix einen Moment in der Hand und hauchte einen Kuss darauf, bevor er es sich umhängte. Dann zog er einen Stuhl heran, setzte sich damit ans Bett, stützte die Ellenbogen auf den Bettrand und faltete die Hände. »Vittorio?«
»Ich bin hier.«
»Luca, bitte lesen Sie weiter.« Gabriel musterte den Jungen, schloss dann die Augen und konzentrierte sich auf seine eigene Mitte, wie Gabriele Amorth es ihn gelehrt hatte. Er stellte sich eine Säule aus weißem Marmor vor, mit einer Maserung aus feinen schwarzen Linien, eine mächtige Säule, die weit aufragte
und durch nichts zu erschüttern war. Sie repräsentierte seinen Glauben. Er war von Franziskanern erzogen worden, und sie hatten ihm ein festes Fundament gegeben, auf dem er das Gebäude seines Lebens errichten konnte. Die feste Überzeugung, dass Gott existierte und mit seiner heiligen Präsenz alles durchdrang, bildete die Grundlage seines Denkens und Fühlens. Sie bestimmte seine Perspektive der Welt, und die Welt, so wusste er spätestens seit der ersten Begegnung mit Don Gabriele Amorth, war viel größer und tiefer als jene, die die Augen gewöhnlicher Menschen sahen.
Gabriel sah sich selbst, wie er vor der Säule stand, Hände und Stirn am weißen Marmor, und gleichzeitig sah er den Jungen, reglos auf dem Bett und den Blick an die Decke gerichtet.
»Wer bist du?«, fragte Gabriel, während Luca weiterhin aus dem Buch mit den lateinischen Gebeten vorlas.
Raffaele schwieg.
Gabriel legte dem Jungen die rechte Hand aufs Knie und die linke auf den Oberarm, fühlte seine kalte Haut. »Die Kerzen, Vittorio.«
Der zweite Assistent entzündete mehrere geweihte Kerzen und verteilte sie im Zimmer.
»Wer bist du?«, fragte Gabriel, und diesmal spürte er ein ganz leichtes Zittern unter seinen Händen. Doch Raffaele schwieg noch immer, und so wiederholte er die Frage in anderen Sprachen.
Dreißig Sekunden verstrichen,
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