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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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Rufbereitschaft sonntags die Praxis für Notfälle geöffnet.
    Ich ließ mich neben den jungen Mann auf einen Stuhl plumpsen und stöhnte laut. Mir war kotzübel. Ich hatte mir schon einiges ansehen müssen, wenn mein Vater Notdienst hatte. Ich hatte aus Lippenbändchen ausgerissene Piercings und blutvergiftete Patienten infolge von entzündeten Tätowierungen gesehen, hatte Alkoholleichen die Kotztüte gehalten und sogar mal bei einem eingewachsenen Zehnagel assistiert, aber das hier war eindeutig zu viel. In meinen Fingerspitzen fühlte ich immer noch, wie die beiden Fleischlappen in meiner Hand pulsierten.
    »Entschuldigen Sie«, sagte da der Mann zu mir, der neben mir saß. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe, aber Sie sitzen auf meinem Finger.«
    Ich sah ihn an. Dann seine rechte Hand. Sie war in ein riesiges Handtuch eingewickelt, das der Mann mit der linken Hand festhielt.
    »Also, eher auf der Fingerkuppe«, sagte er mit einem Lächeln. »Brotmaschinen sind wirklich sehr gefährlich.«
    In diesem Moment spürte ich den kleinen knubbeligen Gegenstand, auf dem ich saß … dann wurde es dunkel, und ich fiel in eine tiefe, sorgenfreie Ohnmacht.

8. Der Polackenzipfel
    Meine Schwester Juliane hat, was Männer angeht, seit jeher einen extravaganten Geschmack. Die ersten Jahre ihrer Pubertät verbrachte sie damit, alle Jungs in ihrer Umgebung mit ihrem umwerfenden Aussehen und ihrer sorgsam gehüteten Jungfräulichkeit total verrückt zu machen. Dann kam sie mit dem Oberschluffi der Stufe zusammen, nahm sieben Kilo zu und fiel im Ranking um die heißeste Braut der Stufe ein paar Plätze zurück. Nach dem Abi legte sie die angefutterten Kilos und auch ein paar ätzende Gewohnheiten ab und wurde zu einem sehr netten Menschen.
    Als sehr netter Mensch fand sie auch bald einen sehr netten Freund, Janek Eglinski, dessen Eltern in den Siebzigerjahren aus Polen nach Deutschland gekommen waren. Janek ist hier geboren und ein feiner Kerl, nur manchmal scheint es, als ob er die Kultur der Deutschen nach wie vor misstrauisch beäugt. Zumindest dann, wenn er selbst ins Fadenkreuz der Aufmerksamkeit rückt.
    An einem bis dato unspektakulären Sonntagmorgen saß meine Familie zusammen beim Frühstück. Wir sprachen über das Übliche, also die ekelhaften Notfälle meines Vaters aus der vergangenen Nacht. Manchmal, wenn wir Fremde zu Besuch haben und mein Vater erzählt, was so alles passieren kann, wenn erwachsene Männer im alkoholisierten Zustand versuchen, eine Dose Würstchen zu öffnen, bekomme ich eine Ahnung davon, wie skurril unsere Gesprächsthemen auf andere wirken. Und mein Vater verschont keinen mit seinen Geschichten, vor allem nicht neue feste Partner seiner Mädchen oder solche, die es gern werden möchten. Erzählt mein Vater von einem Patienten mit Morbus Vorwerk, weiß jeder in der Familie natürlich sofort, wie der Hase läuft.
    »Junge, lass dir nur eines sagen«, witzelt er dann im Anschluss jovial und klopft dem vom Gehörten sichtlich erschrockenen und angewidert dreinblickenden jungen Mann väterlich auf die Schulter, »zieh eine Frau immer dem Staubsauger vor, egal was dir die Leute erzählen!«
    Und selbst die Geschichte mit der rektal eingeführten Colaflasche gibt er immer wieder zum Besten, und er vergisst niemals zu sagen: »Das ist Physik, Freunde, deswegen funktioniert das nicht. Unterdruck, versteht ihr?«
    Glücklicherweise bleibt mein Vater bei seinen Anekdoten aus seinem erheiternd-eitrigen Berufsalltag immer der Schweigepflicht treu. Das ist schön, zum einen für die Patienten, vor allem aber für uns, denn nicht immer möchte ich wissen, welche obskuren Sexualpraktiken jemand verfolgt, der morgens beim Bäcker vor mir in der Reihe steht. Oder noch schlimmer: hinter mir.
    Mein Vater ist also stets diskret, was die Identität seiner Patienten angeht – wenn auch nicht immer freiwillig. Er leidet nämlich unter einer angeborenen Krankheit, die nur Ärzte bekommen: Namnesie. Das kategorische Vergessen aller Vor- und Zunamen. Und so passiert es beinahe täglich, dass er irgendeinen unserer Freunde in der Wohnung trifft, freudestrahlend auf den vermeintlich neuen Gast zuläuft und ihm die Hand hinstreckt: »Hallo, ich bin der Fritz.«
    Der Angesprochene, leicht irritiert, sagt: »Ich weiß, ich war am Freitag schon mal hier. Ich war mit Ihrer Tochter …«
    »Duz mich doch!«
    »Als Caro und ich vor ein paar Tagen saunen waren, haben wir uns zufällig, ähm, kennengelernt …«
    »Ach, du

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