Aerztekind
warst das?« Mein Vater ist dann immer sehr ehrlich verwundert. »Ist ja lustig, so angezogen erkennt man dich ja gar nicht.«
Um dem Betroffenen drei Wochen später erneut das Du anzubieten. Ich vermute, er findet es insgeheim toll, dauernd neue Leute kennenzulernen, sodass er sich erst gar keine Mühe gibt, jemanden wiederzuerkennen.
Und Namen kann er sich sowieso nicht merken. Gar keinen. Nur Krankheitsbilder. Eine typische Konversation mit meiner Mutter geht ungefähr so:
»Weißt du noch, der Alte, dem die Tankstelle am Ortsausgang gehörte?«
Meine Mutter nickt. »Der Dings?«
»Ja, genau. Der mit der Leberzirrhose.«
»Ach nee, dann mein ich einen anderen. Den, dessen Tochter du mal dieses hässliche Furunkel am Kinn entfernt hast.«
»Nein, nicht der. Ich meine den anderen.«
»Ach so, den Dings. Mit dem Blinddarmdurchbruch.«
»Ja, genau, der. Du, stell dir vor, der war neulich in der Praxis. Der hat jetzt ein kolorektales Karzinom.«
»Maligne?«
»Na ja, drei Monate, schätze ich. Der macht nicht mehr lange. Aber der hat einen hübschen Schrebergarten, hast du mich nicht neulich gefragt, ob ich wen kenne, der seinen loswerden will?«
Falls jemand der geneigten Leserschaft noch einen letzten Hoffnungsschimmer hatte, dass es bei Ärzten pietätvoll zugeht, dem sei an dieser Stelle gesagt: Dem ist nicht so.
Was ich jedoch absolut bestätigen kann, ist, dass die ärztliche Schweigepflicht bei uns penibel eingehalten wird – wir haben noch nie einen Namen erfahren. Wir haben mitbekommen, dass irgendein Patient, der irgendwann mal eine schlimme inoperable Hammerzehe hatte, Hepatitis A bis Z mit Sonderzeichen bekommen hat, aber es würde verdammt schwer werden, diese mickrigen Anhaltspunkte mit irgendeinem uns bekannten oder unbekannten Menschen in Verbindung zu bringen. Und meistens haben wir auch gar keine Ahnung, wovon unsere medizinisch versierten Eltern da überhaupt sprechen. Oder wer kommt schon darauf, dass Parotitis epidemica in der ärztlichen Geheimsprache einen ordinären Mumps bezeichnet? Niemand.
Aber manchmal, da verstehen wir Kinder, die wir allesamt nicht weiter in den medizinischen Bereich vorgedrungen sind, doch etwas. Zum Beispiel dann, wenn es um unsereins geht.
Wir saßen also gemeinsam beim Frühstück, und während meine Mutter ihr Sonntagsei mit einem beherzten Schwung des Messers köpfte, fragte mein Vater: »Ach ja, apropos Ei, Jule, wie läuft’s bei euch eigentlich mit der Sexualität?«
Meine Schwester ließ und lässt sich bis zum heutigen Zeitpunkt durch derlei direkte Fragen nicht aus der Fassung bringen. Ihr Freund Janek sieht das hingegen anders. Er verschluckte sich an seinem Mohnbrötchen und hustete mit ein wenig Auswurf ein paar Krümel auf den Tisch. Juliane schlug ihm solidarisch auf den Rücken, wendete sich meinem Vater zu und sagte: »Na ja, geht so. Janek hat immer noch Schmerzen, wenn wir miteinander schlafen.«
Janek riss die Augen auf, sagte jedoch nichts.
Mein Vater nickte, in Gedanken versunken. »Pflegt ihr denn irgendwelche Praktiken, die den Schmerz verursachen könnten?«
»Nein«, meine Schwester schüttelte den Kopf. Janek stellte das Atmen ein und suchte den Boden verzweifelt nach einem Loch ab, in dem er versinken konnte.
»So kann ich natürlich keine fundierte Diagnose stellen.« Mein Vater lächelte generös in Janeks Richtung. »Aber ich glaube, der Zipfel muss ab.«
»Zipfel?« Janek sah zum ersten Mal auf und in das blutrünstige Gesicht meines Vaters. »Welcher Zipfel?«
»Na, dein Polackenzipfel.«
Meine Mutter kicherte. »Fritz, das ist lustig! Noch lustiger als bei Loriot!«
Mein Vater, angefeuert von Mutters Beifall, stand auf und gab Janek einen Wink. »Na los. Hose runter und auf zum EKG .«
Janek ließ nicht die Hose, sondern die Kinnlade fallen.
Ich schaltete mich ein. »Ein EKG bei einer Vorhautverengung? Also, ich hab ja keine Ahnung, aber …«
»Eierkontrollgriff«, gluckste mein Vater ganz in der Tradition des guten Altherrenwitzes.
»Och Papa«, intervenierte Anne, die Jüngste, die bis zu diesem Zeitpunkt überraschend still geblieben war, »geht dafür wenigstens vor die Tür. Ist ja eklig, beim Frühstück.«
»Okay.« Mein Vater verließ beschwingten Schrittes die Küche.
Janek sah verzweifelt zu seiner Freundin, dann zum Türrahmen, in dem mein Vater verschwunden war, dann wieder zu Juliane. »Das ist nicht dein Ernst«, keuchte er.
»Schatz, irgendjemand muss sich das mal angucken! Und tröste
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