Aerztekind
Sache mit dem Über-das-Wasser-Laufen – eine physikalisch betrachtet wirklich abenteuerliche Geschichte.
»Aber«, fuhr Meike fort, »du wirst doch nicht etwa zu den Kindern gehören, die denken, dass ihre Eltern in ihrem Leben nur dreimal Sex hatten?«
Nein, das dachte ich nicht. Das dachte ich nie! Das war vollkommen unmöglich zu denken, so oft, wie sie darüber sprachen.
»Also die Mama und ich …« – so fangen in der Regel die Sätze meines Vaters an, die damit enden, dass er meiner Mutter zärtlich eine Hand auf den Oberschenkel legt und meine Mutter verschmitzt zu grinsen anfängt.
Das ist zu viel. Zu viel für ein Kind, meine ich. Ich wurde schon immer gefordert, und grundsätzlich finde ich das gut, aber mit meinen Eltern über Sex, vor allem über IHREN Sex zu reden, das finde ich moralisch irgendwie … problematisch.
Mein erstes bewusst wahrgenommenes Gespräch über meine eigene Sexualität wurde mir an einem Sonntagabend auf den Abendbrottisch gelegt. Zwischen Gewürzgurken und Käseplatte, Laugenbrezeln und Tomatenschnitzen sagte meine kleine Schwester, damals knapp zehnjährig, plötzlich: »Papa, was ist eigentlich ein Orgasmus?«
»Eine interessante Frage«, sagte mein Vater in bester Oberlehrermanier. »Das erklärt euch am besten die Caro.«
Das war mein Name. Und er war im Zusammenhang mit dem Wort Orgasmus gefallen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe kein Problem, über Sex zu sprechen, immerhin schreibe ich gerade darüber, aber mit vierzehn gibt es Dinge, und derlei nicht zu knapp, die man mit jedem Menschen auf der Welt außer seiner eigenen Familie besprechen will.
»Äh … öhm … püh.« Ich saß in der Falle.
»Nu komm schon, Caro«, sagte mein Vater, »du wirst ja wohl wissen, was ein Orgasmus ist!«
Ich betrachtete eingehend das Salzmosaik auf meiner Brezel.
Mein Vater roch Lunte. »Du willst mir jetzt aber nicht sagen, dass du noch nie einen hattest!«
Was erwartete mein Vater von mir? Ich war vierzehn, ich wog zu viel, ich hatte eine Frisur, für die meine damalige Friseuse heute vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag landen würde, in meinem Gesicht sprossen die Pickel, und grade erst letzten Freitag hatte ich erfahren, dass ich zu allem Überfluss auch noch eine feste Zahnspange bekommen sollte! Ich war von einem Orgasmus so weit weg wie Take That von der Wiedervereinigung. Ich war bislang nicht mal in die Nähe eines Orgasmus gekommen, geschweige denn in die Nähe von Sex, von ein paar verschämten Runden Flaschendrehen und feuchten Küssen auf pickelüberladene Jungenwangen mal abgesehen.
»Caro, Caro, Caro«, sagte mein Vater und schüttelte den Kopf. »Du solltest unbedingt mit der Selbstbefriedigung anfangen!«
Da war er. Der bis dato peinlichste Moment in meinem Leben. Ich schwor mir, mich noch am selben Tag zur Adoption freigeben zu lassen. Bei einer Familie, die am Abendbrottisch nicht über Selbstbefriedigung sprach, da wollte ich leben!
»Selbstbefriedigung ist wichtig«, fuhr mein Vater fort, »damit man später mehr Spaß an der eigenen Sexualität hat. Ich habe mich schon sehr früh selbst befriedigt«, sagte er nachdenklich, mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen. »Und es hat mir beileibe nicht geschadet.«
Doch, hat es, wollte ich rufen, aber ich schwieg und stopfte mir die untere Brezelhälfte auf einmal in den Mund.
»Wie befriedigt man sich selbst?«, fragte nun Juliane, die neugierig geworden war.
Ich sah meine Schwester an. Wieder einmal bestätigte sich die These, dass Schwestern bis zu ihrem achtzehnten Lebensjahr in Isolationshaft gehörten. Absolut und ohne Ausnahme.
Später musste ich meinem Vater dann leider recht geben. Frühzeitig mit seiner Brut über Sex zu reden war tatsächlich die bessere Idee als der Versuch, seinen adoleszenten Kindern weiszumachen, dass Selbstbefriedigung zu spontanen Erblindung oder zu einem One-Way-Ticket ins Fegefeuer führt und am besten mit einer kohlenhydratarmen Diät behandelt wird.
Trotzdem wusste ich die gut gemeinten Ratschläge meines Vaters erst viel, viel später zu schätzen.
Als ich meinen ersten Freund hatte und wir unsere Zeit vorrangig im Liegen, auf- und untereinander, ineinander verschlungen und begierig das Handbuch des Kamasutras durcharbeitend, verbrachten, bekam ich auch meine erste Blasenentzündung. Allerdings brachte ich die Tatsache, dass mein Freund und ich uns hauptsächlich für unsere Geschlechtsorgane interessierten, und den Umstand, dass ich beim
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