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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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einmal die erste, die zweite und auch die dritte Reihe des Hörsaals entlang. Mein Vater saß zwar in der Streberlounge, bekam aber keine Grüße nach Hause bestellt – mit einem piefigen Oberstudienrat als Vater konnte man in Homburg einfach keinen Blumentopf gewinnen.
    Am Tag nach meiner Ankunft in Greifswald fand am Abend ein Treffen der Erstsemester für Medizin statt. Die Fakultät lud uns ins Audimax der Universität ein und stellte uns in einer farbenfrohen PowerPoint-Präsentation die Uni, das Studium und die Vorzüge der freiwilligen und selbstkasteienden Tätigkeiten im ASTA oder der Fachschaft vor. Ich rechnete jeden Moment damit, dem alten Professor mit dem Zwickel zu begegnen und mein Sprüchlein aufzusagen, wurde aber vorerst enttäuscht.
    Neben mir saß ein Mädchen in meinem Alter, die genau so aussah, wie ich mir das Kind eines Arztes und eine zukünftige Medizinerin immer vorgestellt hatte: Polokrägelchen und Kaschmirpullover, Perlenohrringe und eine Louis-Vuitton-Tasche, in die sie nur ein kleines, in Leder gebundenes Notizblöckchen hineinbekam und vielleicht noch die goldene Kreditkarte der Deutschen Ärzte- und Apothekerbank.
    »Hi, ich bin Caro«, stellte ich mich vor und streckte ihr die Hand hin.
    Das Mädchen mit dem Perlenohrring musterte mich, meine ausgelatschten Chucks und meine abgegriffene Umhängetasche skeptisch, dann griff sie mit lascher, kalter Hand nach meiner und schüttelte sie. »Annabelle.«
    Okay, das war also Annabelle. Ihr Vater war bestimmt der führende Neurochirurg in Deutschland, womöglich sogar weltweit, so wie sie hier auftrat. Da es nicht so aussah, als würden wir uns beim nächsten Mal, wenn wir uns trafen, vor lauter Wiedersehensfreude und unter Tränen in die Arme fallen, wandte ich mich nach rechts.
    Das sah schon besser aus. Neben mir saß ein junger Typ mit zugegeben für meinen Geschmack etwas zu gestriegeltem Haar, aber immerhin trug er keine Segelschuhe und sah auch sonst eher nach der unordentlichen Sorte aus.
    Er lächelte mich an. »Constantin.«
    »Äh, hi, ich bin Caro«, sagte ich. »Seid ihr auch Erstis?«
    In der Retrospektive wirkt dieser Satz noch dämlicher, als er in dem Augenblick bei meinen neuen Ärztefreunden Annabelle und Constantin rüberkam.
    »Äh – ja?«, gab Annabelle zurück und zog die Augenbrauen hoch. Sie musste die Urenkelin des alten Professors sein.
    »Und«, versuchte ich das schleppende Gespräch am Laufen zu halten, »sind eure Eltern auch Ärzte?«
    »Psychiatrie und Onkologie«, antwortete Annabelle gelangweilt.
    Pffhh, dachte ich. Lächerlich.
    »Kardiologie und Ästhetische Chirurgie«, sagte Constantin, und ich sah, dass Annabelle zumindest auf Letzteres mit einem breiten Lächeln reagierte. Ich konnte nur schwer an mich halten, nicht seinen werten Herrn Vater von mir grüßen zu lassen.
    »Und du?« Annabelle sah mich abschätzend an.
    »Allgemeinmedizin. Und meine Mutter ist Physiotherapeutin.«
    Jetzt verzogen beide ihr Gesicht.
    »Ach so«, sagte Constantin und drehte sich von mir weg nach vorn.
    Ach so? Was hieß denn hier bitte »Ach so«? Offensichtlich hatte ich ja noch Glück, dass mein Vater ÜBERHAUPT Arzt war – nur mit aufkeimendem Entsetzen konnte ich mir vorstellen, wie es hier jemandem erging, dessen Vater Ingenieur war … oder Sozialpädagoge … oder – dio mio! – Schlosser! Gab es um mich herum nur Ärztekinder? Ohne Ausnahme? Und: Waren sie freiwillig hier? Oder hatten ihre Väter genau wie der meine mit dreihundert Euro und der Familienehre gewunken, und die unmündigen Ärztekindlein hatten sich der autoritären Übermacht gebeugt und waren hierhergekommen?
    In der Pause der Einführungsveranstaltung seilte ich mich von Constantin und Annabelle, sehr zu ihrem Wohlgefallen, ab und machte mich auf die Suche nach meinesgleichen. In der Raucherecke auf dem Campus wurde ich fündig.
    »Hi, ich bin Caro«, stellte ich mich vor und kam direkt zur Sache. »Ich mache hier grade eine statistische Erhebung. Seid ihr alle Arztkinder?«
    Die meisten nickten. Also eigentlich alle. Erschreckend. Es stellte sich heraus, dass fast jeder der hier Anwesenden über seine Eltern einen direkten Bezug zur Medizin hatte, selbst wenn, wie bei einem der Befragten, die Eltern »nur« OP -Helfer waren, was von den anderen mit einem nachsichtigen Lächeln kommentiert wurde. Du bist schon mal raus, Kumpel, dachte ich mir. Schön doof, das hier zuzugeben.
    Nur ein Mädchen, Denise, eine große Brünette mit Stupsnase

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