Aerztekind
grundsätzlich im Namen aller sprechen.
Glücklicherweise hat selbst mein Vater irgendwann erkannt, dass er kein absoluter Herrscher ist – jedenfalls kein anerkannter. Trotzdem hat er sich einen eigenen Machtplural ausgedacht. Der nervige Pluralis generalis, den mein Vater so liebt, scheint ein sprachlicher Versuch der Vereinheitlichung aller zu sein, die unglücklicherweise dasselbe Geschlecht teilen. Natürlich als Form der Abgrenzung. Wenn sich mein Vater und meine Mutter in die Haare kriegen und eine seiner Töchter auch nur in Nähe des Schlachtfeldes kommt, schließt er die Diskussion oft mit der pauschalen Feststellung: »Ihr seid doch alle bekloppt.«
Die bis dahin nicht involvierte Tochter ist dann immer erst sprachlos, dann beleidigt und letztendlich hochgradig solidarisch, denn wenn man schon eines Verbrechens (und sei es nur der Dummheit oder des falschen Geschlechts) beschuldigt wird, obwohl man diesmal ausnahmsweise wirklich nichts gemacht hat, dann tut man sich zumindest mit den anderen Angeklagten zusammen und bildet eine Koalition.
Zugegeben, vielleicht hat mein Vater tatsächlich keinen leichten Stand in einem Haushalt mit vier Frauen, und sein Abgrenzungsplural ist die einzige Möglichkeit, die er sieht, um sich wenigstens verbal zur Wehr zu setzen. Gut möglich ist aber auch, dass diese sprachliche Besonderheit auf seine eigene Position im familiären Gefüge verweist: Ihr seid, ich bin. Ihr gegen mich. Alle gegen einen.
Daran knüpft wohl auch das allseits beliebte und von uns Mädchen zu jedem Zeitpunkt frenetisch umjubelte: »Wenn ihr mich nicht hättet …« an. (Und in Gedanken fügen wir stets hinzu: … dann wären wir alle geimpft, bekämen Pflaster und eine medizinische Grundversorgung.)
Die private Zerstreuung mit Arztserien oder einer auf dem Nachttisch liegenden Ausgabe von Der Medicus genügte in meinen Augen jedenfalls nicht, um den Beruf des Arztes zu ergreifen. Das wäre ja noch schöner. Demnach müsste ich mich auch bei der Polizei (Kriminalromane) und beim Geheimdienst (Agententhriller) bewerben, weil ich mich mit dieser Materie ebenfalls befasse. Und nur weil ich manchmal in den Ärztezeitschriften geblättert habe, die mein Vater zwar selbst nie gelesen, aber immer auf dem Klo hat liegen lassen, hat sich in mir trotzdem nicht der Wunsch geregt, eiternde Ekzeme, offene Frakturen und Hämorrhoiden-Farmen am Hintern fremder Menschen zu behandeln.
Mein Vater wollte das offensichtlich nicht wahrhaben.
»Schnuppere doch wenigstens mal rein. Ich bin mir sicher, es wird dich interessieren! Und wenn du dann nicht Allgemeinärztin oder Kardiologin oder Chirurgin werden willst, na ja, dann machst du halt Pädiatrie. Du kannst doch so gut mit Kindern.«
»Nein, Papa. Ich kann Kinder nicht ausstehen. Anne kann gut mit Kindern.«
»Dann kann die ja Kinderärztin werden. Und du wirst halt Gynäkologin, mein Gott, und jetzt erzähl mir nicht, dass du nicht gut mit Frauen kannst! Du bist umgeben von tratschenden Weibern, das ist doch genau dein Ding.«
Ich schüttelte den Kopf. »Papa, ich finde die Vorstellung, im Unterleib anderer Frauen rumzuwühlen, nicht sehr verlockend.«
»Dann wirst du eben was anderes. Nur bitte keine Ätherschwester. Und kein Gehirnwartungsexperte.«
Schade. Anästhesie hatte den Vorteil, dass man Patienten weitestgehend nicht anfassen musste und immer über einen ansehnlichen Vorrat an Betäubungsmitteln verfügte. Und Psychiatrie interessierte mich (neben der begrüßenswerten körperlichen Distanz zum Objekt) zumindest insoweit, dass ich mit dem nötigen Fachwissen in der Lage gewesen wäre, herauszufinden, welches Problem ich eigentlich hatte.
»Und niemand von der Einlagenmafia.«
Keine Sorge. Orthopädin würde ich nicht einmal werden, wenn es außer Kloputzer und Müllmann auf der Welt keine anderen Berufe mehr gab.
»Du könntest Pathologin werden! Dann kann dir wenigstens niemand mehr widersprechen, und wehtun kannst du den Patienten auch nicht mehr. Und diese Krimisachen interessieren dich doch sowieso. Stell dir doch mal vor, wäre das nicht toll? Meine Tochter, die Gerichtsmedizinerin! Wie bei Tatort! Du wirst spannende Fälle lösen, die Verbrecher mithilfe ihrer DNA überführen, die du den Leichen unter den Fingernägeln rausgekratzt hast – klingt das nicht absolut großartig?«
»Also, äh – nein, tut es nicht. Und ich hab ja auch Bio nur im Grundkurs gehabt und Physik und Chemie ganz abgewählt …«
»Papperlapapp.« Schon
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