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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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Göttinger Studentenwohnheimen wahrscheinlich schlecht geworden vor Neid.
    Doch in einem komfortablen Wohnheim zu leben half mir nicht über das Rumoren in meinem Bauch hinweg, das sich mit Ankunft in der Hansestadt im Osten Deutschlands eingestellt hatte. Ich hatte Angst. In meinen Tagträumen lauschte ich den schlurfenden Schritten der Untoten, die sich mit starrem Blick und verzerrter Fratze langsam auf mich zuschoben. Die Rollen der hinter sich hergezogenen Infusionsständer quietschten, das dunkel verfärbte Blut, das noch vor Kurzem in den bleichen Gebeinen pulsiert hatte, trocknete langsam auf dem traurigen Ockerbraun des Linoleumbodens …
    Von meinem Vater wusste ich, was sich hinter der harmlosen Bezeichnung »Präp-Kurs« verbirgt. Ich war darauf vorbereitet, an grauen Leichen herumzuschnippeln, Augäpfel aus tiefen Höhlen zu bergen, Bauchspeicheldrüsen zu extrahieren und gelbe Fettzellen vom Bauchnetz zu puhlen, um sie anschließend unter dem Mikroskop unter die Lupe zu nehmen. Ich kannte all die Geschichten von in Ohnmacht fallenden Studentinnen, erbrechenden Erstsemestern und dem abgebrühten und vor Arroganz strotzenden Lehrpersonal der medizinischen Fakultät, das in einem früheren Leben im schlechtesten Fall Galeerenführer, im besten Fall irgendein römischer Feldherr gewesen war und sich den Habitus über die Jahrhunderte hinweg erhalten hatte.
    Irgendwann einmal (lange bevor er versucht hatte, mich für ein Studium zu begeistern) hatte mir mein Vater von seinen ersten Tagen im Studium erzählt, damals, als er im zarten Alter von achtzehn (denn dieser Streber hatte doch tatsächlich eine Klasse übersprungen – wahrscheinlich die zweite, die war am leichtesten …) nach Homburg/Saar gefahren war, um in die hohe Kunst der Medizin eingewiesen zu werden. Ich erfuhr, dass mein Vater bei der Einführungsveranstaltung, die ein älterer gebückter, aber nicht minder autoritär wirkender Herr in adrettem Dreiteiler und mit silbrig glänzendem Zwickel hielt, neben seinen Kommilitonen in einem dieser typisch medizinischen Vorlesungssäle, die wie ein griechisches Theater gebaut sind und in ihrem Zentrum über einen von allen Plätzen sehr gut einsehbaren Seziertisch verfügen, saß – und bibberte. Der alte Professor hatte gerade einen dreißigminütigen Vortrag über die Halbwertszeit von Erstsemestern der Medizin abgeschlossen, dessen Inhalt vorrangig war, dass er nach dem ersten Semester nur noch ungefähr die Hälfte der hier und heute Anwesenden begrüßen dürfte, drei Semester später, nach dem Physikum, nur noch etwa ein Drittel.
    »Das Medizinstudium«, knurrte der alte Professor, »ist kein Studium für Charaktere, die immer den einfachsten Weg gehen wollen. Es erfordert Disziplin, Durchhaltevermögen und Intelligenz. Sie werden über Ihre Grenzen gehen und noch viel weiter. Erst der Schmerz öffnet den Geist, das werden Sie noch früh genug merken.«
    Mich persönlich hätte so eine Antrittsrede sofort in die Flucht geschlagen. Aber meine Generation ist auch schrecklich verweichlicht – ach nein, sensibel heißt das ja jetzt. Mein Vater war ein wenig demutsvoller als ich, und außerdem waren es die Siebziger, und irgendwie war mein Vater immer ein Streber und nie cool genug für Schlaghosen gewesen, und deswegen blieb er sitzen, sogar dann, als der alte Professor die erste Reihe der neuen Studenten langsam ablief – in der mein strebsamer Vater Platz genommen hatte.
    »Und Sie?«, fragte er sein erstes Opfer. »Was macht Ihr Vater?«
    »Äh …«, stammelte der junge Mann blitzgescheit. »Arzt.«
    Die Augenbrauen des Alten hüpften anerkennend über dem Zwickel. »Und welche Fachrichtung?«
    »Psychiatrie.«
    Die Augenbrauen sanken wieder nach unten. Das Lächeln des Professors verblasste. Bevor er etwas Herablassendes sagen konnte, wandte er sich dem Nächsten zu. »Und Sie?«
    »Sachbearbeiter«, flüsterte der Student neben dem Psychiaterkind und senkte demutsvoll den Kopf. »Aber im gehobenen Dienst.«
    Der Professor nahm diese jämmerliche Ergänzung mit stoischer Ignoranz zur Kenntnis. Erst der dritte Befragte gab ihm eine zufriedenstellende Antwort auf seine Frage: »Chirurgie. Herz und Gefäße.«
    Der Professor lupfte erneut die Augenbrauen, lächelte und wippte einmal kurz auf den Fußballen nach vorn. »Na, das hört sich doch gut an. Ich habe mich selbst der Chirurgie verschrieben, und ich werde Sie im Auge behalten, junger Mann. Und Grüße an den Herrn Vater!«
    So ging es

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