Aerztekind
steigen würde. Dass ich aufhören würde, grünen Schleim abzuhusten, und mein Blutdruck wieder in die Regionen stieg, die landläufig als normal galten. Ich wollte vermeiden, ums Verrecken sogar, dass ich zu einem Arzt gehen musste. Zu einem anderen als meinem Vater, der mir dann wie dieser sagen würde, dass ich mich mit meinem lächerlichen Schnupfen nicht so anstellen solle, und mir ein paar Spaziergänge an der frischen Luft und ein paar Wadenwickel verordnete. Es ist eine Sache, von seinen Eltern als Weichei hingestellt zu werden, eine ganz andere jedoch, wenn das ein Fremder tut.
Doch all der Kamillentee, den ich in den kommenden Tagen trank, half nichts. Irgendwann gab ich mich geschlagen und schleppte meinen maladen Körper zu einem Mann, der laut Schild und Visitenkarte Allgemeinarzt war. Immerhin kein Spezialist und damit auch keine teuren Gerätschaften und von der Krankenkasse nicht bezahlten Behandlungsmethoden.
»Na, wo drückt denn der Schuh?«, fragte er freundlich und jovial und schob mich auf seine Behandlungsliege.
»Hals«, röchelte ich.
Er schnappte sich sein Stethoskop und hörte meine rasselnden Bronchien ab. Dann steckte er mir ein Fieberthermometer ins Ohr, maß meinen Puls, untersuchte meine Lymphknoten und erkundigte sich nach der genauen Farbe und Zusammensetzung des von mir abgesonderten Schleims aus Nase und Rachen.
»Sie haben eine schwere Bronchitis, mein Fräulein«, sagte er in einem sehr strengen und sehr vorwurfsvollen Ton. »Sie hätten schon viel früher kommen müssen – Ihnen geht es doch bestimmt schon länger nicht gut.«
»Ist nur ein Schnupfen«, keuchte ich.
»Nichts da, Schnupfen!«, empörte sich der Doktor. »Ich verordne Ihnen ein starkes Antibiotikum, außerdem strenge Bettruhe. Ich werde Sie krankschreiben, mindestens bis zum Ende der Woche. Am Freitag möchte ich Sie aber noch einmal untersuchen. Kommen Sie in die Praxis, oder rufen Sie an, dann mache ich einen Hausbesuch.«
Was war das?
Ich hatte, und ich musste eindeutig schon stark dehydriert und im Delirium sein, die drei bösen Worte vernommen: Antibiotikum, Bettruhe und Krankschreibung. Das konnte nicht sein. Der Typ machte Witze! Das war ein Kurpfuscher übelster Sorte, ein Scharlatan, ein Nichtskönner, der auf Kosten unseres maroden Gesundheitssystems die Leute krankschrieb, wenn sie mit einem lächerlichen Schnupfen ein paar Tage lang mal ein wenig früher ins Bett gehen sollten!
Ich war doch nicht krank! Ich war höchstens erkältet! Und ein Hausbesuch kam schon mal gar nicht infrage, genauso wenig wie ein weiterer Besuch zulasten der leeren Kassen.
»Es ist ein Schnupfen!«, begehrte ich auf, doch dem Arzt war nicht zum Spaßen zumute.
Er drehte sich zu seinem Medikamentenschrank um und zog eine kleine Packung aus der Schublade. Dann zwang er mich, die Tablette, die er mit ärgerlicher Geste aus dem Blister drückte, zu schlucken, und kontrollierte mit seiner Ohrentaschenlampe sogar, ob ich sie nicht unter der Zunge versteckt hielt. Wie die Leute im Irrenhaus mit den psychotischen Störungen. Oder die mit Münchhausen-Syndrom.
Einen Tag später sank das Fieber, und ich beschloss, auch den Rest der Tabletten zu nehmen. Zwei Tage später war ich wieder in der Lage, aufzustehen, in der Wohnung herumzulaufen und mir eine Hühnerbrühe zu kochen. Und noch mal einen Tag später rief mein Vater an und meinte: »Machst du immer noch mit diesem Schnupfen rum? Mädchen, Mädchen, dein Immunsystem ist wirklich im Eimer. Du solltest aufhören zu rauchen. Und abnehmen. Dann würdest du auch seltener diese Erkältungen bekommen.«
Ich traute mich nicht, ihm zu sagen, dass ich mittlerweile von einem anderen Arzt behandelt wurde, und schämte mich.
Neben dem Unwillen, einen fremden Arzt aufzusuchen, ist ein weiteres charakteristisches Merkmal aller Ärztekinder der absolut fehlende Respekt vor Vertretern des medizinischen Berufsstandes, besonders vor den Fachrichtungen, die ihre Patienten nicht anfassen. Je tiefer der Arzt im Patienten wühlen muss, um dem Leiden auf den Grund zu gehen, desto höher die damit verbundene Achtung der Kollegen. Besonders blöd ist diese Einstellung, wenn man als Ärztekind mit genau so einem Vertreter in Berührung kommt.
Ich habe erst einmal Feindkontakt mit einem Anästhesisten gehabt, doch innerhalb weniger Minuten war klar, dass unsere Beziehung auf gegenseitiger Respektlosigkeit basiert. Eigentlich habe ich scheckheftgepflegte Zähne, gehe regelmäßig zur
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