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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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schwand plötzlich mein Desinteresse, und woher kam dieses mulmige Gefühl in mir? Das lag garantiert nicht daran, dass er mir soeben den Zugang gelegt hatte.
    »Wissen Sie, wir Anästhesisten werden ja oft verkannt. Wir müssen auf so viele Dinge gleichzeitig achten. Die allgemeine Verfassung des Patienten, wie schon gesagt die Dosierung, das Überwachen der Monitore …«
    Und das Produzieren von Schwachsinnsmonologen, ergänzte ich in Gedanken. Der Typ war echt unangenehm. Vermutlich hatte er auf meinem Anamnesebogen gelesen, dass mein Hausarzt und ich denselben Nachnamen trugen, und jetzt meinte er, sich aufspielen zu müssen. Wäre er doch Internist geworden, dann müsste er nicht so dick auftragen. Oder HNO -Arzt. Oder er hätte was Ordentliches aus seinem Leben gemacht und wäre in die Orthopädie gegangen.
    Hatte der Anästhesist meinen mangelnden Respekt vor seinen Fähigkeiten etwa bemerkt und wollte sich rächen?
    »Hatten Sie schon mal eine Narkose? Nein? Dann wird Ihnen gleich sicher ein wenig schwindelig.«
    »Ja, ja, schon klar.«
    »Zählen Sie doch mal rückwärts, bitte.«
    »Haben Sie eine Lieblingszahl, bei der ich anfangen soll? Zehn ist ja ein bisschen einfach – vielleicht irgendwas Komplexeres?«
    »Zählen Sie einfach«, knurrte er.
    Mir war ja klar, dass das Herunterzählen das einzige Highlight seines traurigen Alltags zwischen Ampullen und Infusionsfläschchen war. Eine Art Countdown des Mitleids, mit dem ich seinen jämmerlich kleinen Handlungsspielraum anteasern sollte.
    »Ich hab’s! Ich zähl in Primzahlen!«, schlug ich vor. »Zwei --- drei --- fünf --- sieben – nein, halt, ist sieben eine Primzahl? Quatsch. Also, ich fang noch mal an …«
    Er seufzte gut hörbar. Undankbarer Stoffel. Nun sorgte endlich mal jemand für ein bisschen Unterhaltung in seinem drögen Arbeitsalltag, und was war der Dank?
    »Zwei, drei, fünf, … äh … elf …«
    »Ihnen wir jetzt gleich ein wenig schwindelig.«
    Ich muss wohl schon ein wenig benebelt gewesen sein, zumindest aber nicht mehr Herrin meiner Sinne, als ich, in Gedanken, wie ich meinte, fragte: »Von Ihrem Gefasel oder vom Medikament?«
    Ich hörte meine Worte in meinem Ohr, sah die Chirurgin schmunzeln und den Anästhesisten erblassen. Oder war Letzteres nur ein Traum?
    Schlagartig wurde es schwarz um mich.
    Als ich eine Dreiviertelstunde später wieder erwachte, war ich allein im Aufwachraum. Jemand hatte eine Decke über mich gelegt, trotzdem fror ich ganz erbärmlich. Meine Zähne klapperten unentwegt aufeinander, was bestimmt schmerzhaft gewesen wäre, wenn meine gefühlt tennisballgroß geschwollene Oberlippe und alles, was darunterlag, nicht taub gewesen wären. Ich fühlte mich müde und schlapp.
    Erst nach einer Weile bemerkte ich ein Stück Papier auf meinem Bauch. Mit zitternden Händen griff ich danach und faltete es auseinander. Da stand: »Und die Sieben ist doch eine Primzahl.«
    Immerhin. Mit Zählen kannte er sich aus.

5. Der Thronfolger
    Mein Vater hat mit seinen drei Töchtern, seien wir ehrlich, schon ein hartes Los gezogen. Ich weiß nicht, wann er sich zum ersten Mal einen Sohn und Thronfolger gewünscht hat. In dem Ausmaß, wie er sich auf seine Schwiegersöhne in spe stürzt, muss es aber schon sehr früh der Fall gewesen sein.
    Weil wir alle nicht in seine Fußstapfen treten wollten, entwickelte er schon bald einen Plan B: Wenn also kein Mediziner eigenen Blutes in der Familie, dann halt ein Kuckuckskind. Am Ende zählt nur das Ergebnis. Und so legte er uns, wann immer sich die Gelegenheit bot, nahe, es doch vielleicht nicht mit den ganzen anderen Idioten, die wir immer nach Hause schleppten, sondern mal mit einem jungen Halbgott in Weiß zu versuchen.
    Da ich eine beachtliche Zeit meiner Goldenen Zwanziger solo war, begann mein Vater bei der Umsetzung seines Plans in die Wirklichkeit folgerichtig bei mir.
    »Caro«, seufzte er eines Abends beim Abendbrot, »was ist denn eigentlich dein Problem mit Männern?«
    Ein Problem mit Männern? Davon war mich nichts bekannt. Ich hatte eher ein Problem mit keinen Männern, und das hatte ich nicht mal vor meinem Vater verbergen können.
    »Wieso?«
    »Als ich in deinem Alter war …«, begann er, wurde jedoch rüde von mir unterbrochen.
    »Ja, ja, als du in meinem Alter warst, da war die Sonne noch heller und der Himmel noch blauer, und die Männer rannten den jungen Frauen die Bude ein.«
    Er nickte. »Genau. Jungen Frauen, die nicht so renitent waren wie du. Manchmal

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