Aerztekind
uns ein.
»Aber lange bleibe ich nicht«, keifte sie noch am ersten Abend. »An Ostern werde ich gehen.«
Ich sah auf den Kalender. Noch knapp fünf Monate, das musste sich irgendwie aushalten lassen – auch wenn ich die volle Breitseite ihres Gezeters abbekommen würde. Ich war vor nicht allzu langer Zeit selbst wieder bei meinen Eltern eingezogen, weil mich ein hervorragender Diplomabschluss und ein erfolgreich abgeschlossenes Volontariat in einem kleinen Verlag nicht vor der Arbeitslosigkeit hatten bewahren können. Sehr zum Leidwesen meiner selbst, denn mein Vater ließ keine Gelegenheit aus, mich auf mein falsch gewähltes Studienfach und die daraus resultierende vergeudete Lebenszeit hinzuweisen.
»Und wohin gehst du an Ostern?«, fragte meine patenschaftsmäßig besser aufgestellte Schwester Anne.
»Zu Gott!«, donnerte Erika und verlangte nach einer weiteren Tafel Ritter Sport Voll-Nuss.
Erika residierte direkt neben dem Schlafzimmer meiner Eltern. Meine Mutter stattete sie in der ersten Woche mit einem kleinen Glöckchen aus Messing aus, damit Erika uns rufen konnte, wenn sie Hilfe benötigte. Nach einer Woche nahm Mama ihr das Glöckchen aber wieder weg, weil sie unentwegt damit bimmelte und uns in den Wahnsinn trieb. Nach zwei Wochen wurden ihre Rufe derart laut und schrill, dass Mama ihr das Glöckchen wieder zurückgeben musste, allerdings legte sie es von da an immer ein paar Zentimeter außerhalb ihrer Reichweite.
Es wurde Weihnachten. Erika schimpfte auf den schlimmen Kommerz und versaute uns die Bescherung.
»Noch ein paar Wochen«, jammerte sie immer wieder, »dann seid ihr mich los! An Ostern ist Schluss.«
Tante Erika konnte sich zu diesem Zeitpunkt schon fast nicht mehr allein bewegen. Ihren Rollator, den wir ihr in der optimistischen Annahme besorgt hatten, sie könne sich damit durch die Wohnung schieben, ließ sie links liegen, stattdessen bestand sie darauf, alle Mahlzeiten, und zwar pünktlich!, im Bett einzunehmen. Bald schon verzichtete sie ganz auf vernünftige Nahrung und verlangte nach mehr Schokolade, wunderte sich aber, dass sie ständig Verstopfungen hatte. Wenn weniger als drei Tafeln in ihrer Schublade im Nachttisch lagen, schrie Tante Erika quer durch die Wohnung nach meiner Mutter, die heimliche Pflegebefohlene, die die Sonderbestellung augenblicklich an den ersten von uns weitergab, den sie in die Finger bekam.
Aufs Klo ging Tante Erika verständlicherweise gar nicht gern. Sie machte unverständlicherweise lieber ins Bett. Deswegen bekam sie Windeln, die sie sich jedoch bei erstbester Gelegenheit vom Hintern zog, um danach wieder ins Bett zu machen. Manchmal, wenn meine Mutter nicht da war, musste sich mein Vater, der einzige Blutsverwandte von Tante Erika, um sie kümmern. Das war immer dann besonders lustig, wenn Erika mal wieder in die Laken gepieselt hatte. Mein Vater lief schimpfend und in gebückter Haltung durch die Wohnung und verfluchte Tante Erika und ihre Inkontinenz.
»So werde ich nie werden«, drohte er uns mit erhobenem Zeigefinger, »vorher geb ich mir die Kugel!«
Das erste Osterfest mit Tante Erika kam und ging, und sie weilte immer noch unter uns.
»So ein Mist«, schimpfte sie am Dienstag nach Ostern, »dann versuche ich es eben nächstes Jahr noch mal!«
»Was versuchen, Tante Erika?«
»Sterben!«, brüllte sie mich an. »Oder wolltest du so wie ich leben?«
Nein, dachte ich, und in diesem Moment fiel mir das Bild von Mwai aus Kenia wieder ein. Ich verkniff mir einen fiesen Seitenhieb, denn wenn man Tante Erikas Gemecker Glauben schenken konnte, hatte sie eine Standleitung in den Himmel.
Ein weiteres Jahr verging, und Erika lag uns immer noch in den Ohren, dass sie an Ostern sterben wolle.
»Warum hilft mir denn niemand?«, fragte sie, aber wenn mein Vater dann sagte: »Weil Sterbehilfe verboten ist«, ging sie ihn an: »Doch nicht du sollst mir helfen! Gott soll mich holen!«
Am Abendbrottisch, wenn Erika in ihrem Zimmer an einer Voll-Nuss knabberte, schmiedeten wir Pläne.
»Es könnte wie ein Unfall aussehen«, schloss ich meinen Vortrag über den angemessenen Gebrauch eines Kopfkissens, wurde jedoch abgeschmettert.
»Nein«, winkte mein Vater ab. »Zum einen ist das viel zu auffällig. Zum anderen bringt man keine Leute um. Nicht mal Erbtanten.«
»Nicht mal solche, die nerven?«, versuchte ich es weiter.
»Nein, nicht mal solche«, sagte mein Vater und goss sich ein Glas randvoll mit Rotwein ein.
Kurz vor Ostern des zweiten
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