Aerztekind
freute mich über die bunten Bilder, die ich aus dem Kalender herausschnitt und zu lustigen Collagen verarbeitete, die ich anschließend wieder an Erika zurückschickte. Doch irgendwann im Laufe der Zeit wurde mir klar, dass meine Schwestern es mit ihren Paten wesentlich besser getroffen hatten. Julianes Pate ist ein Zahnarzt und ehemaliger Verbindungsfreund meines Vaters und kompensierte seine mangelnde Präsenz im Leben meiner Schwester jahrelang mit den tollsten Barbies, den besten Playmobil-Häusern und den spektakulärsten Schmuckstücken, die man einem Mädchen überhaupt nur schenken kann. Annes Pate ist Rechtsanwalt in Hannover und verdient mehr Geld, als es moralisch vertretbar ist. Er überhäufte meine Schwester zwar nicht mit Zuneigung, wohl aber mit angemessenen Geldbeträgen, die ihm ihren unbedingten Zuspruch zusicherten.
Nur ich war gestraft mit einer Patentante, die mir Jahre später in ihrem Testament den polnischsprachigen Teil ihrer Privatbibliothek und ein altes unvollständiges Silberbesteck mit ihren Initialen vermachte. Ich habe es einmal zum Juwelier gebracht und schätzen lassen, aber nur ein müdes Lächeln geerntet. Auf meine Frage hin, ob es sich lohne, bei hundertsechsundzwanzig Teilen die Gravur » EL « in » CW « umändern zu lassen, wurde ich ausgelacht.
Das Haus, in dem meine Eltern leben, gehörte ursprünglich aber Erikas Familie. Deswegen wurde mir von meinen Eltern immer nahegelegt, mich mit Erika nett zu unterhalten, wenn sie uns besuchte, und ihr immer regelmäßig meine Schulzeugnisse zuzuschicken. Zum Dank schenkte sie mir zum zehnten Geburtstag eine eigene Patenschaft, allerdings in Afrika. Auf der Karte, die sie dem Schreiben von UNICEF beilegte, stand:
Liebe Carolin,
sicher stimmst du mir zu, dass es auf dieser Welt so viel Leid und Elend gibt und du in eine sehr privilegierte Situation hineingeboren wurdest. Der kleine Mwai aus Kenia freut sich über die zehn Mark, die ich ihm ab jetzt jeden Monat überweisen werde, sehr. Ich habe dir ein Bild von ihm beigelegt. Dank deiner Spende kann Mwai jetzt in die Schule gehen. Ist das nicht schön? Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag. Möge Gott dich segnen.
Erika
Um nicht wie ein totales Arschloch dazustehen, möchte ich an dieser Stelle anmerken, dass ich es heute grundsätzlich und moralisch einwandfrei und richtig finde, dass es diese Programme von UNICEF gibt. Ich finde, dass wir reichen Europäer uns unbedingt mehr in der Dritten Welt engagieren sollten, da wir im Überfluss leben und uns die zehn Mark im Monat beileibe nicht wehtun.
Aber musste Mwai aus Kenia unbedingt MEIN Geld bekommen? Ich war zehn! Ich war ein Mädchen! Ich wollte Mein kleines Pony und Bibi-Blocksberg -Kassetten und Sammelhefte mit glitzernden Aufklebern, keine Patenschaft für ein afrikanisches Kind!
Mein heftiges Aufbegehren verklang im Nichts. Meine Mutter schenkte mir zum Ausgleich eine Zehnerkarte Reitstunden und befahl mir, einen Brief zu schreiben, in dem ich mich bei Erika bedankte. Ich tat, wie mir geheißen, und pinnte das Bild von Mwai als ewiges Mahnmal, dass es mich wirklich hart getroffen hatte, an die Korkwand über meinem Schreibtisch, in der Hoffnung, dass sich mein uneigennütziger Beitrag irgendwann einmal rechnen würde.
10. Es bleibt in der Familie
Meine Annahme, dass sich meine perfide geheuchelte Bescheidenheit irgendwann einmal zu meinen Gunsten auszahlen würde, war nicht unbegründet. Tante Erika hatte immer allein gelebt – ihre große Liebe war im Krieg gefallen, verheiratet war sie nur mit der Kirche (zumindest sollten wir das glauben). Und nachdem sie zweiundachtzig Jahre lang in der ewigen Treue zu Gott verbracht und ihr Vermögen in Dagobert-Duck-Manier angehäuft oder der Kirche in den Rachen geworfen hatte, pinkelte sie eines Tages dem Bischof zu Aachen bei einem Hausbesuch vor die Füße. Auf den teuren Perser, so eine Verschwendung. Natürlich nicht absichtlich – sie war der Kirche ja wohlgesonnen. Sondern einfach, weil alten Damen so was manchmal passiert und Inkontinenz nicht einmal vor denen Halt macht, die jeden Sonntag ein paar Münzen in den Klingelbeutel werfen.
Meine Eltern, gewitzt und absolut nicht von gestern, überredeten die Erbtante in bester Erbschleimermanier, in das alte Haus ihrer Familie einzuziehen, den Ort, an dem sie aufgewachsen war, ihre Heimat, ihr Domizil, um sich von uns, ihrer einzig wahren Familie, pflegen zu lassen.
Gott bewahre.
Drei Wochen später zog Erika bei
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