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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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ans Bett. Ihrem Gesicht konnte ich ablesen, wie sehr sie sich gerade zusammenriss. Es tröstete mich, dass, wenn mein Vater schon so ein Stoffel war, wenigstens meine Mutter mit uns auf einer Seite stand (hier stimmte wenigstens einmal das »ihr«) und mit uns trauerte. Mein Vater hatte auch leicht reden – der war seit einem Vierteljahrhundert Vollwaise. Mama hingegen hatte vor vier Jahren erst ihre Mutter zu Grabe getragen, und jetzt schien Opa auf direktem Weg hinterherzueilen.
    Meine Mutter sah mit einem liebevollen Blick auf ihren Vater herab, dann straffte sie die Schultern.
    »Die Beatmungsmaske sitzt ja ganz schief.« Sie beugte sich schniefend über sein Gesicht. »Komm mal her, Opa, das richten wir wieder.«
    Ich beobachtete, wie sie nach der Maske griff und versuchte, sie in die richtige Position zu bringen.
    Dann hörte man ein Zischen.
    »Was ist jetzt passiert?«, fragte Juliane, die sich mit einem Taschentuch gerade die Tränen aus den Augenwinkeln tupfte.
    »Ich weiß nicht«, sagte meine Mutter und trat einen Schritt vom Bett weg. »Ich war’s jedenfalls nicht.«
    »Von wegen«, sagte meine Schwester und riss die Augen weit auf.
    Die Beatmungsmaske saß jetzt ordnungsgemäß und gerade auf Opas Gesicht. Nur leider hatte Mama durch ihre Aktion den Unterdruck der Maske zunichtegemacht. Das Ergebnis war, dass die Luft jetzt nicht mehr in Opas Lunge rauschte, sondern lautstark neben der Beatmungsmaske vorbei ins Krankenzimmer entwich.
    »Was hast du gemacht?!« Die Panik in Julianes Stimme ließ auch mich für einen Moment nervös werden.
    »Ich habe nichts gemacht!«, verteidigte sich meine Mutter. In einer viel zu hohen Tonlage. Und alles andere als glaubwürdig.
    Mama wandte sich meinem Vater zu. »Fritz, mach das mal wieder richtig!«
    Der hob hilflos die Hände. »Wieso denn ich?«
    Jetzt mischte ich mich ein. »Wer denn sonst?!«
    Anne und Juliane grunzten zustimmend.
    Papa gab sich geschlagen und trat ans Bett. Mit einem beherzten Griff zog er die Beatmungsmaske von Opas Gesicht.
    Das Gerät, das meinen Großvater bis zur verhängnisvollen Korrektur meiner Mutter beatmet hatte, fing an zu piepen.
    »Wieso piept das?«, wollte Anne wissen und wurde von einer Sekunde auf die andere aschfahl.
    »Papa, wieso PIEPT das?!«, rief nun auch Juliane geradezu hysterisch.
    Das Beatmungsgerät beantwortete Julianes Frage, indem es zu einem noch höheren Piepen in noch kürzeren Abständen ansetzte.
    »Oh Gott!«, rief meine Mutter.
    »Jetzt werdet bloß nicht panisch!«, befahl Papa.
    »Wieso sprichst du uns schon wieder alle an?«, fragte ich, aber von mir nahm niemand Notiz.
    »Das kann doch wirklich nicht so schwer sein!«
    »Jemand muss einen Arzt rufen«, krächzte meine Mutter.
    »Äh …«, traute ich mich zu sagen, doch mein Vater entsandte einen vernichtenden Blick in meine Richtung.
    »Sag jetzt bloß nix, Caro!«
    »Soll ich einen Arzt holen?«, fragte Anne mit zittriger Stimme. »Ich meine, einen echten?«
    »Was soll denn das jetzt heißen?!«, polterte mein Vater, der nach wie vor (und wie ich mit einer gewissen Genugtuung sah: mit immer nervöser werdenden Bewegungen) versuchte, Opa die Beatmungsmaske wieder aufs Gesicht zu drücken.
    Die Beatmungsmaschine löste mit einem infernalischen Klingeln den Alarm aus.
    »Vielleicht muss ich nur fester drücken«, schlug sich Papa selbst vor.
    Täuschte ich mich, oder nahm Opas Gesicht eine leicht bläuliche Färbung an?
    »Du erstickst ihn doch!«, schrie Mama.
    »Wie soll ich ihn denn ersticken, er erstickt ja von ganz alleine!«
    Juliane stürzte an Opas Bett, nahm seine Hand und fing hemmungslos an zu flennen. »Ihr habt ihn umgebracht!«
    »Ist er tot?« Anne kam ebenfalls näher.
    »Nein, er ist nicht tot, verdammt, aber dieses blöde Ding … ich krieg das einfach nicht … Herrschaft!«
    Als ich sah, wie Papa mit nahezu verzweifelter Gewalt und Schweißtropfen auf der Stirn die Beatmungsmaske auf Opas Gesicht presste, beschloss ich, dem Trauerspiel ein Ende zu setzen. Nein, nicht so, wie Sie jetzt denken. Ich wollte Opa retten und mich nicht in die blutrünstige Gesellschaft meiner Familie begeben. Also rannte ich aus dem Zimmer und in die Arme eines Krankenpflegers.
    »Der Alarm ist losgegangen – was ist passiert?«, fragte er mich, schien aber die Ruhe wegzuhaben.
    »Öhm …« Für meine Verhältnisse erstaunlich mundfaul entschied ich mich dafür, die Klappe zu halten. Ich glaube, als Blutsverwandte verfüge ich über ein

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