Aerztekind
Jahres, in dem wir unter Tante Erikas Terrorherrschaft litten, beschlossen meine Eltern, über die Feiertage nach Italien zu fahren.
»Ihr kommt doch allein klar?«, fragte mein Vater, und ich schwor mir, ihn irgendwann auch mal in seiner Windel mit zehn Packungen Ritter Sport Voll-Nuss und drei mordlustigen Schwestern allein zu lassen.
»Ich weiß nicht, Papa«, wandte ich ein, »Erika sagt immer, sie will an Ostern sterben. Was, wenn es diesmal gelingt?«
Mein Vater lachte, sichtlich amüsiert. »Ich habe noch nie von jemandem gehört, der an dem Tag stirbt, an dem er sterben will, und dabei keinen Selbstmord begeht. Und dass sie das tut, ist vollkommen ausgeschlossen, du weißt ja«, er blickte nach oben an die Zimmerdecke, »ihre besondere Connection. Nein, nein, es ist absolut ausgeschlossen, dass Erika das Zeitliche segnet, einfach nur, weil sie es möchte. Wo kämen wir denn da hin, wenn das jeder so machen würde?«
Meine Eltern fuhren also in den Urlaub. Ich blieb mit Tante Erika, meinen Schwestern und einer Frau von der Sozialstation zurück. Die ersten Tage verliefen noch ruhig. Dann in der Nacht von Karfreitag auf Ostersamstag wurde ich von einem Rütteln an meiner Schulter geweckt. Ich öffnete die Augen, vor mir stand die Frau von der Sozialstation.
»Frau Erika«, stammelte sie aufgeregt und in gebrochenem Deutsch, »Frau Erika ist zu Herr in Himmel gegangen!«
»Das ist vollkommen ausgeschlossen«, sagte ich, in der absoluten Sicherheit, dass mein Vater, der Arzt, mit seinen Prognosen immer recht und ich, der Kulturbeutel ohne Festengagement, mit meinen Prognosen immer unrecht hatte, und sprang aus dem Bett.
Unten in der Wohnung war es totenstill. Ich schlich in Tante Erikas Zimmer, die Frau von der Sozialstation folgte mir dicht auf den Fersen. Neben dem Bett angekommen, starrte ich einen Moment auf Tante Erikas Brustkorb, bis mir klar wurde, dass er sich nicht mehr hob und senkte. Ich hielt ihr die Hand vor die Nasenlöcher. Nein, kein Luftstrom. Weil ich nicht wusste, wo man bei einem Menschen nach dem Puls fühlt, wenn man vermeiden wollte, ihn anzufassen, zwickte ich Tante Erika durch das geblümte Nachthemd in den Oberarm.
Sie reagierte nicht. Schließlich überwand ich all meine Beklemmungen und legte ihr die Hand an den Hals … Nein, nur um den Puls zu fühlen, ich schwöre!
Ich fühlte keinen. Offensichtlich war Tante Erika von uns gegangen – und schalt dabei nonchalant meinen Vater einen Narren. Punktlandung. Und urplötzlich war ich ein kleines bisschen stolz darauf, die Patentochter dieser bemerkenswerten alten Dame zu sein, die sich vorgenommen hatte, an Ostern zu sterben, und das Unmögliche möglich gemacht hatte. Es sei denn … sie hatte Hilfe gehabt.
Hinter mir räusperte es sich.
»Haben Sie …«, begann ich stockend, unfähig, meinen Verdacht laut zu äußern. »Ich meine … haben Sie … sie so gefunden?«
»Ja«, sagte die Frau von der Sozialstation mit großen Augen, »habe ich so gefunden Frau Erika!«
Ich ließ meinen Blick mit kommissarischer Finesse durch den Raum gleiten, auf der Suche nach einer Unregelmäßigkeit, einem Detail, das gestern noch anders gewesen war, fand aber nichts. Tante Erika hatte es also tatsächlich geschafft, selbstbestimmt zu sterben. Ohne Hilfsmittel. Es sei denn, man zählte die Gebete an den Allmächtigen dazu.
Die Frau von der Sozialstation räusperte sich erneut. »Was ist mit die Ringe?«, fragte sie flüsternd.
»Welche Ringe?«, fragte ich flüsternd zurück.
Warum flüsterten wir?
»Die goldene Ringe an die Finger!«, sagte die Frau von der Sozialstation nun etwas lauter. »Die könne nicht bleibe. Wegen Verbrennung in Ofen.«
Puh, ja, genau. Jetzt kam der unangenehme Teil der Veranstaltung.
»Können wir das nicht morgen entscheiden?«, fragte ich.
»Geht nicht gut, wegen die Totstarre«, erklärte die Frau.
Ich stöhnte. »Meine Güte, na gut, dann runter mit den Dingern«, und griff nach Tante Erikas lebloser Hand.
Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel. »Lieber Gott, an den ich nicht glaube, ich habe ein bisschen was gut bei dir, weil das Geld, das eigentlich in meine Geschenke hätte investiert werden müssen, an Mwai aus Kenia gegangen ist, damit er eine gute Schulbildung bekommt und nach Möglichkeit nicht an Aids erkrankt. Ich selbst interessiere mich gar nicht für diese Ringe, ich tue nur das, was mir gesagt wird, also wenn du am Tag der Abrechnung mit deinem himmlischen Rachefeldzug einen Bogen um mich
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