Aerztekind
Aussageverweigerungsrecht, wenn die eigenen malignen Angehörigen gerade den letzten verbliebenen Großelternteil um die Ecke brachten, oder?
Der Krankenpfleger drängelte sich an mir vorbei ins Zimmer, wo meine Familie immer noch um das Bett von Opa herumstand. Mein Vater hatte den Staffelstab an meine Mutter abgegeben und inspizierte feige die Krankenakte von Opa, während Mama, mit hektischen roten Flecken im Gesicht, die Maske auf Opas Gesicht drückte. Anne und Juliane standen zu je einer Seite des Bettes, hielten Opas Hände mit den langen Schläuchen dran, durch die geheimnisvolle Flüssigkeiten in seinen Körper hineintropften, und heulten Rotz und Wasser. Ein Bild für Götter.
»Wenn ich die Herrschaften dann zur Seite bitten dürfte«, witzelte der Pfleger und verscheuchte die Meute vom Bett. Dann drückte er auf zwei Knöpfe der Beatmungsmaschine, die augenblicklich das Piepsen und Röcheln einstellte, griff nach der Beatmungsmaske und setzte sie Opa ordnungsgemäß schief wieder aufs Gesicht.
»Die hält nur schief«, sagte er trocken.
Andächtig, und auch ein wenig zerknirscht, lauschten wir dem rhythmischen Saugen und Pusten der Maschine. Nach wenigen Sekunden nahm Opas Gesicht wieder eine normale Färbung an, und Papa legte die Krankenakte beiseite. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt. So heilt man heute.
»Herr Dr. Wittmann …«, setzte der Krankenpfleger an.
»Nur Wittmann«, bemerkte ich, und mein Vater bedachte mich mit einem Blick, der die Toten hätte auferstehen lassen.
Wenn denn jemand tot gewesen wäre. Oder zumindest gestorben. Aber niemand, nicht einmal mein Opa, machte sich in den kommenden Tagen die Mühe. Nach einer Woche, in der er immer noch nicht gestorben war, wurde er auf die Geriatrie verlegt. Putzmunter und in bester Stimmung. Wie sagt man doch so schön? Totgeglaubte leben länger.
Zwei Jahre später starb Opa dann tatsächlich – ganz friedlich bei sich zu Hause im Bett und ganz ohne Beatmungsmaske oder die freundliche Unterstützung von seiner Tochter und seinem Schwiegersohn. Bei der Beerdigung liefen alle gebückt und traurig hinter dem Pfarrer mit der Urne in der Hand zum Grab, meine Eltern direkt vor uns.
Da höre ich meine Mutter tuscheln: »Schatz, jetzt sitzen wir in der sprichwörtlichen ersten Reihe!«
Leider kann meine Mutter nicht so gut tuscheln, und das Kichern meines Vaters war auch nicht zu überhören, denn der Pfarrer drehte sich zu ihnen um, und ich bin mir bis heute sicher, dass er kurz davor war, ihnen seine Weihrauchglocke an die zusammengesteckten Köpfe zu schlagen.
Mit dem Tod können meine Eltern gar nicht gut umgehen – oder deutlicher gesagt: überhaupt nicht. Als sie vor ein paar Jahren erfuhren, dass in der Nachbarschaft ein ehemaliger Patient meines Vaters überraschend den Folgen eines Hirnschlags erlegen war, zuckte mein Vater nur resigniert mit den Schultern und sagte: »Das hätte ich ihm gleich sagen können. Aber er musste ja unbedingt den Arzt wechseln.«
Dann fiel ihm etwas ein. »Du, sag mal, Gerdi«, wandte er sich an meine Mutter, »gehörte dem nicht das hübsche Eckhaus an der Straße? Das aus dem gelben Sandstein?«
Meine Mutter blinzelte ihm zu. Und war einen Tag später bei der an MS erkrankten Witwe im Krankhaus, um ihr ihre Aufwartung zu machen, ihr Beileid auszusprechen und ganz zufällig mal nachzufragen, was nun aus dem hübschen Häuschen aus gelbem Sandstein werden würde.
Das Haus ging an die Bank, und meinen Eltern blieb eine glorreiche Zukunft als zweifache Hausbesitzer verwehrt. Keinfache Hausbesitzer, um genau zu sein, denn das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, in dem meine Eltern leben, gehörte ihnen bis vor ein paar Jahren gar nicht, sondern meiner alten Erbtante Erika.
Tante Erika war, Gott hab sie selig, ein richtiges Miststück. Sie lebte in Köln in einer schicken Penthauswohnung im siebten Stock eines schicken Hochhauses im besten Bezirk, war ihr Leben lang alleinstehend und arbeitete lange Zeit als Pressereferentin des Aachener Bischofs. Sie war Trägerin des Bundesverdienstkreuzes und ein echtes Ekel. Erika war geizig. Das äußerte sich unter anderem in ihren überaus reizenden Weihnachtsgeschenken, die sie mir jedes Jahr in einem bereits mehrfach abgestempelten, zerrissenen und wieder zusammengeklebten Umschlag zukommen ließ: alte UNICEF -Kalender vom Vorjahr.
Es stimmt, in den ersten Jahren der Patenschaft war mir nicht klar, dass die Kalender alt und das Geschenk für den Arsch war, denn ich
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