Aerztekind
vereint gewesen waren. Ein notariell beglaubigtes Testament entdeckten wir nicht, wohl aber eine umfangreiche Liste all der Güter, die nach Tante Erikas Tod an die wirklich sehr große Familie meines Vaters verteilt werden sollten. Die Standuhr ging an Onkel Norbert. Den hässlichen Bauernschrank vermachte Erika Papas Cousin Joachim. Ich bekam das bereits erwähnte unansehnliche Tafelsilber mit ihren Initialen und drei Regale voll polnischer Literatur. Den deutschsprachigen Teil – für den ich mich womöglich wirklich interessiert hätte – vererbte sie der Wohlfahrt. Und irgendwo ganz weit unten auf dem vergilbten Stück Papier stand in einer krakeligen Sütterlin-Handschrift geschrieben: »Meinem lieben Fritz vermache ich das Haus, das seit Generationen in unserer Familie ist und auch bleiben soll.«
Zum ersten Mal, seit ich Erika kennengelernt und bewusst als mein eigen Fleisch und Blut wahrgenommen hatte, fühlte ich mich ihr gegenüber dankbar. Trotz des blöden Tafelsilbers. Denn mit ihrer Verfügung gewährte uns Erika nicht nur ein momentanes Wohnrecht, sondern sicherte auch noch nonchalant mein zukünftiges Erbe. Und das, obwohl ich mein Leben lang davon ausgegangen war, irgendwann mal bei Mwai in seiner afrikanischen Hütte Zuflucht finden zu müssen, weil mein Vater mir seine finanzielle Unterstützung strich und unser Erbe auf einem der sieben Weltmeere verjubelte. Karma sei Dank.
III. Therapie
1. Mann über Bord
Der Tag, an dem mein harmonisches Weltbild ins Wanken gerät, ist ein regnerischer Märzfreitag. Er beginnt mit dem Klingeln meines Handys. Die Tatsache, dass ich davon erwache, ist einzig und allein dem Umstand zuzuschreiben, dass ich mich Nacht für Nacht dem Elektrosmog meines mobilen Endgeräts aussetze, da das Handy auch gleichzeitig mein Wecker ist. Ich werde ohnehin an zwanghaftem Bewegungsmangel, nicht therapierbarer Diätresistenz oder einfach Lungenkrebs sterben, daher kann ich mich schon mal an die regelmäßige Bestrahlung gewöhnen. Das Handy klingelt, und es klingelt zu früh. Auf dem Display steht MAMA .
»Papa ist aus Shanghai nicht zurückgekommen.«
Zwischen den vielen Schluchzern und einigen panischen, unregelmäßigen Atemzügen bin ich im ersten Moment nicht in der Lage, die Tragweite des Satzes zu begreifen.
Was soll das heißen, er ist nicht zurückgekommen? Hat er eine neue Frau? Fängt er ein neues Leben an? Hat er am Ende sogar – mich gruselt – eine neue FAMILIE ?! Was heißt das, er ist nicht zurückgekommen? Sprachlich betrachtet ist das eine abgeschlossene Vergangenheitsform. An der gibt’s nichts mehr zu rütteln.
Ich bin verwirrt.
Das Einzige, was ich verstehe, ist, dass dieses dramatische Intro nur ein sehr, sehr hässlicher Vorbote eines noch sehr viel hässlicheren Vormittags werden wird. Ich bin von einer Sekunde auf die andere hellwach, robbe mich aus dem Bett und besitze sogar die Geistesgegenwart, mir einen Bademantel überzustreifen. Im Vorbeigehen greife ich nach meinen Zigaretten, schlüpfe in ein paar ausgelatschte Birkenstock und bin keine dreißig Sekunden später aus der Haustür heraus. Ohne Zähneputzen.
Ich fahre zu meinen Eltern nach Hause. Dort treffe ich auf meine in Tränen aufgelöste Mutter. Sie schnappatmet. Ich bin ganz ruhig, nehme sie in den Arm und lasse mir von ihr erzählen, was passiert ist.
Mein Vater ist, seit er eingesehen hat, dass es mit der Zeit immer schwieriger wird, untrainiert einen Achttausender zu besteigen, begleitender Arzt auf Kreuzfahrtschiffen. Alle paar Monate packt er seinen Koffer und verschwindet auf eines der sieben Weltmeere, um dort gemeinsam mit einigen gut betuchten Senioren die traumhaftesten Länder dieses Planeten anzusteuern. Absurderweise verdient er dabei sogar Geld. Deswegen besteht er auch immer auf die Richtigstellung, dass er nicht einfach nur schnöde Reisen unternimmt, sondern in Übersee Geld verdient, und zwar steuerfrei. Natürlich (an dieser Stelle hat die Platte einen Sprung) nur für uns. Damit wir, auch wenn meine Schwestern und ich uns derlei ehrlose Berufe ohne Zukunfts- bzw. Reichtumsperspektive ausgesucht haben, trotzdem mal seinen hohen Lebensstandard fortführen können.
Seit acht Wochen ist mein Vater also in Australien. Für uns, na klar. Danke, Papa. Auf einer sehr komplizierten Route, die keiner außer ihm und dem Kapitän durchschaut, schippert er abwechselnd von Neuseeland nach China und wieder zurück, mal mit Zwischenstopp Australien, mal mit Borneo, immer
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