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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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hin und zurück, hin und zurück, bis sich in der Tasmanischen See eine tiefe Fahrrille eingegraben hat.
    Heute sollte er zurückkommen.
    Sollte, denn er wird nicht kommen, weil er das Flugzeug nie bestiegen hat. Was ich in den ersten paar Minuten des bis dato grauenhaftesten Tages meines Lebens herausfinde, ist, dass die begleitende Bordkrankenschwester, die mit meinem Vater die Seereise beendet hat und gemeinsam mit ihm in den Flieger steigen sollte, meine Mutter vor zwanzig Minuten vom Zwischenstopp in Istanbul aus angerufen hat, um ihr mitzuteilen, dass sie ihren Mann nicht in Frankfurt am Flughafen abzuholen braucht. Auf dem Weg zum Flughafen in Shanghai ist mein Vater aus bis dato ungeklärter Ursache kollabiert. Daraufhin hat ihm die Krankenschwester verboten, das Flugzeug zu besteigen.
    »Sie hat gesagt, dass Papa ganz blass war und dass er blaue Lippen hatte«, sagt meine Mutter unter Tränen.
    Blaue Lippen? Wieso? Ist es in Shanghai so kalt?
    Ich durchforste mein lückenhaftes medizinisches Grundwissen auf der Suche nach blauen Lippen. Ich kriege manchmal welche, wenn ich Rotwein trinke. Und Papa trinkt gern guten Rotwein. Aber das traue ich mich in diesem Moment nicht zu sagen.
    »Er ist im Krankenhaus. Sie glauben, er hatte einen Herzinfarkt.«
    Nur tröpfchenweise sickert die Information zu mir durch.
    Papa. Shanghai. Herzinfarkt.
    Eine der drei Komponenten in dieser Gleichung macht mich stutzig, unsicher. Beinahe will ich auflachen. Mein Papa KANN keinen Herzinfarkt gehabt haben. Das ist ein Fehler in der Matrix. Mein Papa ist ein Halbgott in Weiß. Mein Papa hat ein Sportlerherz, etwa so groß wie ein Basketball, und die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Herz seinen Dienst quittiert, ist genauso hoch wie die Wahrscheinlichkeit von Schnee im Juli.
    Mein Vater hat einen Herzinfarkt. Und in Indien wohnen Indianer. Tsk!
    Obwohl ich den Sachgehalt der Theorie anzweifle, schalte ich innerhalb weniger Sekunden in den Funktionierenmodus. Ich denke nicht darüber nach, wie hoch die Wahrscheinlichkeit tatsächlich ist, dass es doch ein Herzinfarkt sein könnte, ich denke nicht darüber nach, was es stattdessen sein könnte, ich denke nicht darüber nach, WARUM mein Vater im Krankenhaus ist, sondern ich beginne augenblicklich, den Patienten zu stabilisieren und gebe schmerzlindernde Medikamente. Ich nehme meine Mutter in den Arm.
    Dann greife ich zum Telefon und rufe Anne an, die nur wenige Straßen entfernt wohnt. Sie kommt gerade aus dem Bad und nimmt mit einem erstaunten Tonfall das Gespräch an: »Na, du bist aber früh wach heute Morgen!«
    Sie lacht. Im Hintergrund höre ich ihren Hund bellen. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich ihr einfach einen schönen guten Morgen wünschen und einen blöden Witz nachschieben soll. Vielleicht sogar einen Lehrerwitz. So einen, den Lehrer immer machen, wenn sie bei einem Fehler an der Tafel ertappt werden. »Ich wollte nur überprüfen, ob ihr noch alle wach seid.« Haha. Vielleicht wäre es besser, meiner Lehrerinnenschwester einen Lehrerwitz aufs Auge zu drücken, sie in Ruhe und in die Schule gehen zu lassen, um dort achtundzwanzig wild gewordene Zweitklässler in das große Geheimnis der Division einzuweihen.
    Ich sehe in das Gesicht meiner Mutter. Ihre Augen sind verquollen, sie tupft sich nervös mit einem Taschentuch an der Nase herum. Auf ihrer Wange prangt noch immer der Kissenabdruck der letzten Nacht. Sie hustet, dann quellen weitere Tränensturzbäche aus ihren rotgeweinten Augen.
    Vergessen wir die Überlegung, die Sache allein durchziehen zu wollen. Hier ist jede Hilfe gefragt.
    »Okay, pass mal auf«, sage ich ins Telefon und gebe mir große Mühe, meine Stimme stark und souverän klingen zu lassen. Ich bin die Älteste. Breche ich in Panik aus, brechen alle in Panik aus. Ich muss ruhig bleiben, besonnen, ja beinahe heiter sein. Es ist keine Katastrophe. Wir haben nur ein kleines Problem. Und ich habe alles im Griff. »Papa ist im Krankenhaus. In Shanghai. Er konnte das Flugzeug nicht nehmen.«
    Stille am anderen Ende. Ich weiß in diesem Moment nicht, ob ich einen besseren, weniger dramatischen Auftakt als »Papa ist aus Shanghai nicht zurückgekommen« gewählt habe. Wenn ich so darüber nachdenke, erinnert mich »Papa ist aus Shanghai nicht zurückgekommen« nämlich ziemlich stark an »Er war Zigaretten holen, und dann ist er nie nach Hause zurückgekehrt«. Und das ist definitiv kein guter Satz.
    Meiner ist aber auch keiner, denn meine

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