Aerztekind
Natürlich haben wir null Informationen. Da mein Vater sein Leben lang nicht davon ausgegangen ist, dass ihm etwas passieren könnte, hielt er es auch nie für nötig, uns Notfalltelefonnummern oder Kontaktpersonen im Ausland aufzuschreiben. Seit ich denken kann, verreisen meine Eltern unter dem Motto: Keine Nachricht, gute Nachricht.
Blöd, dass wir den Anruf dieser Krankenschwester erhalten haben. Das belegt eindeutig: Doch ’ne Nachricht, schlimme Nachricht.
In meiner Verzweiflung schreibe ich an die E-Mail-Adresse, unter der ich meinen Vater in den letzten zwei Monaten erreicht habe, die vom Hospital des Kreuzfahrtschiffes. In den Betreff schreibe ich in Versalien » PLEASE SENT THIS FORWARD TO THE CAPTAIN « und geize nicht mit Ausrufezeichen. Dann bitte ich den Kapitän, mir umgehend die Kontaktdaten des Reederei-Agenten in Shanghai und den momentanen Aufenthaltsort meines Vaters mitzuteilen.
Jede Reederei hat in den Städten, in denen ihre Kähne gastieren, einen eigenen Agenten, also jemanden, der die Landessprache spricht, sich in der Stadt auskennt, weiß, wo die Krankenhäuser, Fundbüros und Leichenhäuser sind …
So, und jetzt ist mir schlecht.
Ich schaue auf und meiner Mutter und meiner Schwester in die leeren Gesichter.
»Wir müssen Jule anrufen«, flüstert Mama.
Erneut erwacht mein Mutterinstinkt zum Leben. Juliane, die Mittlere, wohnt in Hamburg. Sie ist mehrere Stunden von uns entfernt, und sie hat einen Job, in dem sie sich nicht einfach mal einen Tag freinehmen kann. Doch bevor ich etwas sagen kann, hat Anne das Handy in der Hand und wählt die Nummer.
Von dem Gespräch bekomme ich nichts mit. Auf Mamas Handy ist eine weitere Nachricht meines Vaters angekommen:
HATTE RECHT : DIAGN . LUNGENEMBOLIE , AUSGEHEND VON NICHT KLINISCH ERKENNBAREN TIEFEN BVT BDS . MITTELS KATHETER SOLL CAVA - SCHIRM EINGESETZT WERDEN . HÄMODILUTION WIRD EINGELEITET . BITTE MORGIGEN TERMIN IM STÄDTISCHEN KRANKENHAUS UM ZEHN UHR BEI DR . STANKOV ABSAGEN .
Ich grapsche nach dem Telefon. Mir reicht’s. Ich verstehe kein Wort! Was bedeutet BVT BDS ? Und was ist das für ein Termin? Was für ein Dr. Stankov?
Ich wähle die Nummer meines Vaters, kriege jedoch keine Verbindung zustande. Frustriert lege ich das Telefon weg.
»Mama, was heißt BVT BDS ?«, wende ich mich an meine Mutter.
»Beinvenenthrombosen, beidseitig«, schluchzt sie.
»Thrombosen? In den Beinen?« Hä? »Aber an so was stirbt man doch nicht! So was haben doch nur alte Frauen!«
Ich irre mich, und zwar gewaltig. Das merke ich an der Reaktion meiner Mutter, die mir nicht mehr antworten kann, weil sie von einem erneuten Heulkrampf geschüttelt wird.
Ups. Kann man also doch dran sterben.
»Wir müssen einen Flug für dich buchen«, beschließe ich.
Wenn so eine lausige Thrombose wirklich zum Sterben reicht, bleibt uns keine andere Wahl. Für einen kurzen Moment werde ich von einer sentimentalen Welle gepackt: Wie schön war die Zeit, als ich von meinen Eltern wirklich nichts hörte, wenn sie für drei Wochen über den Indischen Ozean schipperten. Dann wusste ich wenigstens, dass alles okay war. Jetzt habe ich schon die zweite Nachricht meines reisenden Vaters erhalten, und die Lage sah ernst aus.
»Einen Flug?« Sie sieht mich an, als hätte sie gerade erst erfahren, dass Menschen mit einem Flugzeug lange Strecken hinter sich bringen.
»Ja, du musst nach Shanghai«, sage ich.
»Nach Shanghai?!« Meine Mutter reißt entsetzt die Augen auf.
»Nein, vielleicht lieber woandershin, wo es jetzt schön warm ist und die Sonne scheint«, möchte ich sagen, reiße mich aber zusammen und sage stattdessen: »Ja, Shanghai. China.«
Meine Mutter schüttelt den Kopf. »Das wird Papa nicht wollen.«
Zum ersten, aber leider nicht zum letzten Mal an diesem Tag erhebe ich die Stimme: »Das. Ist. Mir. Scheißegal!«
Meine Mutter kommentiert das mit einem weiteren Ausbruch in Tränen, ich seufze und tippe erneut auf der Tastatur des Laptops herum. Nach kurzer Zeit habe ich einige passende Flüge gefunden, doch bevor ich buchen kann, wird die angespannte Stimmung von einem Klingeln unterbrochen. Das Telefon meiner Mutter.
Auf dem Display steht: PAPA .
2. Liebesgrüße aus Moskau
Wir sind mucksmäuschenstill. Keiner sagt ein Wort. Meine Mutter hat der Situation angemessen aufgehört zu atmen und lauscht stattdessen angestrengt in den Hörer.
Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, sagt sie mit einer so festen Stimme, dass es mich überrascht: »Hör auf
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