Aerztekind
zu weinen, Schatz. Du darfst dich nicht aufregen.«
In diesem Moment wird mir zum ersten Mal bewusst, dass meinem Vater, dem Unantastbaren, dem Nie-krank-Werder, dem Ihr-seid-doch-alle-Simulanten-Motzer, der Arsch auf Grundeis geht. Für Nichtärztekinder mag das nicht weiter verwirrend sein, wenn die eigenen Eltern in Tränen ausbrechen, weil etwas Furchtbares, etwas Unvorhersehbares passiert ist, im schlimmsten Fall mit ihnen selbst.
Ärztekindern geht es anders. Ärztekinder sind erschüttert von der Erkenntnis, dass ihre eigenen Eltern sterblich sind.
In dem Moment, als Mama, die eben noch von Heulkrämpfen gebeutelt wurde, mit beherrschter Stimme sagt, dass Papa aufhören soll zu weinen, da weiß ich: Es ist noch schlimmer als befürchtet. Wenn dieses medizinische Bollwerk ins Schwanken gerät, muss es lebensbedrohlich sein. Wenn er weint, weiß er, wie es um ihn steht. Er ist unsicher und allein und am anderen Ende der Welt. Dieser Moment zieht mir den Boden unter den Füßen weg. Ich vergesse, nach dem Telefon zu verlangen, ich vergesse, der Stimme meiner Mutter weiter zu lauschen. Ich sitze da, mit dem erkalteten Kräutertee in meiner Hand vor dem Laptop, und versuche mit der Gewissheit klarzukommen, dass mein Vater ein Mensch ist wie jeder andere, dass er sterben kann und dass wir alle das wohl gerade eben erst kapiert haben.
Als meine Mutter auflegt, bricht sie erneut in Tränen aus. Ihrem Gestammel kann ich nichts entnehmen, was mir gerade weiterhilft. Nur so viel: Mein Vater ist der Meinung, dass er trotz der Herzrhythmusstörungen der letzten zwei Wochen keinen Herzinfarkt hatte.
Herzrhythmusstörungen?
Welche?
Seine?!
Er vermutet, dass er eine Lungenembolie hat, denn am Flughafen, als er zusammengebrochen ist, hat er wohl von den Sanitätern mitbekommen, dass seine Lunge nur noch auf siebzig Prozent läuft.
Siebzig Prozent. Ich muss nicht Medizin studiert haben, um zu wissen, dass das nicht besonders viel ist.
Ich bin verwirrt. Ich weiß nicht, ob eine Lungenembolie wirklich so viel besser ist als ein Herzinfarkt. Darf ich jetzt bitte in Panik ausbrechen?
Nein, keine Chance, Mama und Anne weinen wieder.
Alles klar, ich halte die Stellung.
»Wie kriegt man eine Lungenembolie?«, frage ich.
Meine Mutter zuckt die Schultern. »Da muss man eine Thrombose haben.«
»Und wie kriegt man eine Thrombose?«
Wieder Schulterzucken, wieder keine Antwort.
Vielleicht wird es Zeit, dass ich mal diesen Termin im Krankenhaus absage, und wenn derjenige am anderen Ende der Leitung kompetent erscheint, kann ich gleich mal fragen, wie man so eine Thrombose kriegt, wie das zur Lungenembolie werden kann und ob wir uns jetzt zwischen Pest und Cholera entscheiden müssen oder tatsächlich ein Karma-Upgrade erfahren haben.
Es dauert ein paar Minuten, bis ich herausgefunden habe, dass Dr. Stankov ein Kardiologe ist. Soso. Mein Vater hatte also einen Termin bei einem Herzspezialisten. Wann hat er den wohl ausgemacht?
Dr. Stankov nimmt das Gespräch entgegen und begrüßt mich mit einem breiten slawischen Akzent und in bester Freitagmorgenlaune.
»Ah, Frau Wittmann. Sind Sie Tochter von Herr Dr. Wittmann?«
»Nur Wittmann. Ja, bin ich. Und ich muss den Termin, den mein Vater anscheinend für morgen früh mit Ihnen vereinbart hat, leider absagen.«
»Schade das«, radebricht Dr. Stankov. »Habe ich extra eingerichtet für Ihre Vater diese Termin.«
»Wieso eigentlich?«
»Wisse Sie, Fräulein Wittmann«, sagt Dr. Stankov mit seiner watteweichen, verständnisvollen Stimme, »Ihre Vater es ging nicht so gut auf Schiff. Hat er mir geschriebe in E-Mail. Geht ihm besser?«
Ein Kloß wandert von meinem Magen hinauf in meine Kehle. Ich schlucke ihn mit Gewalt wieder hinunter.
»Nein, das kann man nicht sagen, es geht ihm nicht besser. Er ist noch in Shanghai, er hat das Flugzeug nicht genommen, weil er auf dem Flughafen kollabiert ist. Jetzt ist er im Krankenhaus.«
»Eijeijei.« Dr. Stankov scheint trotz seltsamer Wortwahl wirklich betroffen. »Nicht gut das. Was passiert?«
Ich schildere ihm, was ich weiß. Stankov hört aufmerksam zu. Dann sagt er: »Das seltsam ist. Hatte doch gemacht Äh-Ka-Gä und Betablocker genomme.«
»Bitte was?«
»Ja, ja, Fräulein Wittmann, Ihre Vater hat gefühlt sich nicht so gut die letzte Tage. Hat geschriebe mir viele E-Mails, habe versucht Diagnostik, ist aber schwer, ohne zu untersuchen die Patient. Sehen Sie, Ihre Vater hat Verdacht, dass er habe Myokarditis. Ist
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