Aerztekind
Schwester beginnt, panisch zu atmen.
»Was – was soll das heißen?«, stammelt sie. Dann dringt es lauter durch den Hörer: »Was soll das heißen, Caro?«
Sie hatte mir nicht mal eine winzige Chance gelassen, ihre erste Frage zu beantworten.
»Er hat wohl einen Herzinfarkt oder so was in der Art gehabt.« Weil ich dieser Vermutung immer noch keinen Glauben schenken kann, drücke ich mich absichtlich hypothetisch aus. Meiner Schwester macht das gar nichts, sie keucht aufgeregt weiter in den Hörer.
»Und jetzt?!«
»Jetzt nimmst du dir eine Plastiktüte und atmest da ein paar Mal rein.«
»Tüte? Ich hab keine Tüte! Nur die für den Hund.«
»Die nimmst du.«
»Ich atme nicht in eine Scheißtüte für Hunde!«
Nöööt. Antrag abgelehnt. »Anne, du nimmst jetzt die verdammte Scheißtüte und atmest da rein. Und danach kommst du schnellstmöglich hierher.«
Klasse. Ich höre mich an, als hätte ich einen Plan. Habe ich aber nicht. Ich bin Arzttochter, keine Krisenmanagerin. Und erst recht keine Notärztin! Oder ist das am Ende vielleicht sogar alles dasselbe?
Mein Funktionierenmodus rödelt weiter, und ich beginne, die Lage zu sondieren. Ich setze Kaffee auf und lasse mir von meiner Mutter noch einmal in aller Ruhe erzählen, was die Krankenschwester gesagt hat. Danach bin ich keinen Zentimeter schlauer als vorher, habe aber das Gefühl, dass Mama sich etwas beruhigt hat. Ich schütte die Kanne Kaffee in den Abfluss und koche Kräutertee. Lieber kein Risiko eingehen.
Meine Schwester kommt und fällt mir in die Arme, im selben Moment pingt das Handy meiner Mutter. Eine SMS von meinem Vater! Okay, denke ich, er schreibt SMS , also ist er nicht tot. Das mag jetzt ein wenig makaber klingen, aber in Ausnahmesituationen wie dieser scheint das menschliche Gehirn ausnahmslos praktisch zu funktionieren. In meinem Fall kommt es mir so vor, als sei die Verbindung zum Emotionszentrum gekappt. Ich bin nur noch in der Lage, Daten zu verarbeiten, Schlüsse zu ziehen und Gegenmaßnahmen einzuleiten. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich noch keine Träne vergossen. Meine Diagnose: Ich habe mich in einen Arzt verwandelt.
Ach, du Kacke.
In seiner SMS schreibt mein Vater, dass er schon seit mehreren Tagen kurzatmig gewesen sei:
BIN NOCH IN SHANGHAI , SEIT EINIG . TAGEN KURZATMIG , GESTERN JEDOCH AUCH IN RUHE LUFTNOT & ZYANOSE . KOLLABIERT AM FLUGHAFEN . BRAUCHE O2 & BIN SEHR SCHWACH , KEINE SCHMERZEN . AN EINEN HI KANN ICH OHNE AP NICHT GLAUBEN . TIPPE AUF LUNGENEMBOLIE . BEHAND . ARZT SCHLÄGT PULMONALIS - ANGIO VOR . KEINE LEBENSGEFAHR , MACHT EUCH KEINE SORGEN . MELDE MICH WIEDER .
Das ist ja mal wieder typisch! Während wir vor Sorgen fast umkommen, scheint Papa mal wieder tiefenentspannt! Wir bekommen eine vollständige Anamnese inklusive Diagnose und Therapievorschlag, und das alles in etwas mehr als hundertsechzig Zeichen.
Der Satz »Macht euch keine Sorgen« beunruhigt mich am meisten. Herzinfarkt oder Lungenembolie mal außer Acht gelassen – macht euch keine Sorgen? Haha. In dem Moment, in dem jemand schreibt, »Macht euch keine Sorgen«, kann er mit einhundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass man sich die größten Sorgen seines Lebens macht, vielleicht sogar stirbt vor Sorgen! Es gibt kein sichereres Indiz dafür, dass man allen Grund hat, sich eine Menge Sorgen zu machen, als die Aufforderung, sich bitte schön KEINE Sorgen zu machen. Das ist ungefähr so, wie wenn man versuchen soll, nicht an irgendwas zu denken, und von diesem Zeitpunkt an nur noch genau daran denkt. Schokolade zum Beispiel. Zigaretten. Können Sie sich vorstellen, wie toll das klappt, vorsätzlich mit dem Rauchen aufzuhören? Genau. Gar nicht. Genau wie mit dem Sorgenmachen.
Ich beginne deswegen umgehend damit. Erstmals beschleicht mich ein ungutes Gefühl. Auch der Hinweis, dass er »außer Lebensgefahr« sei, ist für die Katz. Na schön, vielen Dank auch, wenn das so ist, schicke ich meine Schwester jetzt mal zum Bäcker, und wir Daheimgebliebenen veranstalten ein großes Festtagsfrühstück, weil: Hey! Daddy ist außer Lebensgefahr. Lasst die Korken knallen, Ladies, der Alte ist raus aus der Todeszone.
Genau.
Nach einem lauwarmen Schluck Kräutertee stehe ich auf, hole den Laptop aus dem Arbeitszimmer und setze mich wieder zu meiner Mutter und meiner Schwester an den Küchentisch.
Ich brauche den Kontakt zum Schiff. Irgendjemand, der in diesem Moment vor Ort ist oder mir sagen kann, wo sie meinen Vater hingebracht haben.
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