Aerztekind
stört mich die Extravaganz der ganzen Geschichte. Ich habe schon von Freunden gehört, die ihre Eltern in Hamburg, in Wernigerode, wenn es hart auf hart kam, vielleicht mal nach einem spektakulären Skiunfall in St. Moritz abholen mussten. Ich habe noch nie von jemandem gehört, der für den Krankenbesuch eines Elternteils um die halbe Welt gejettet ist. In einem anderen Zusammenhang würde das vielleicht kosmopolitisch und sehr schick klingen: »Ich muss mal rasch nach Shanghai, bin am Ende der Woche wieder da.« In unserem Zusammenhang ist die Tatsache, dass mein Vater ausgerechnet in China kollabieren musste, extrem unluxuriös.
Aber irgendwie auch passend. Wenn ein Lehrer, ein Pilot oder Bankberater Urlaub hat, legt er sich in irgendeinem wohltemperierten Land an den feinen Sandstrand, schnürt sich die Wanderstiefel oder besteigt ein Flugzeug und fliegt an einen kulturell ansprechenden Ort, um mal ein paar Wochen abzuschalten. Die ganz Harten machen sogar Urlaub auf Balkonien und spannen in den eigenen vier Wänden mal so richtig aus. Aber Ärzte? Die haben eindeutig ein Adrenalinproblem! Die müssen immer Halligalli um sich rum haben, die müssen merken, dass sie leben, und deswegen fahren sie höchstens an einen Strand, um von dort aus in ein Boot zu steigen und zum Apnoetauchen rauszuschippern, seilen sich von der Eigernordwand ab und steigen allerhöchstens in ein Flugzeug, um sich in dreitausend Meter Höhe mit einem Fallschirm auf dem Rücken aus der Maschine zu werfen. Das ist doch total banane, diese permanente Suche nach dem Adrenalinkick.
Und enorm unpraktisch. Denn das Visum bekommen wir, wie wir einen halben Tag später wissen, nur, wenn wir eine Flug- und Hotelbestätigung, einen Schrieb vom Krankenhaus sowie eine Bestätigung der Reederei, dass bei uns alles mit rechten Dingen vor sich geht, vorlegen. Den Flug können wir aber nicht buchen, weil wir kein Visum haben. Ein wirklich fantastisches System, um Spontanurlauber und Kurzfristige davon abzuhalten, nach China einzureisen. Ich schreibe auf meine To-do-Liste lieber vorsorglich noch: polizeiliches Führungszeugnis, Unbedenklichkeitsbestätigung vom Gesundheitsamt, Briefwahlunterlagen und die notariell beglaubigte Urkunde vom Ehevertrag meiner Eltern – das ist doch total irre, was die Chinesen alles haben wollen, nur weil man in ihr Land einreisen will. Hallo? Schon mal was von Gastfreundschaft gehört?
»Aber Papa will bestimmt sowieso nicht, dass wir kommen«, sagt meine Mutter mit belegter Stimme.
Ich wiederhole meine Aussage vom Morgen, um sicherzugehen, dass meine Mutter begreift, wie schnurzpiepegal mir Papas Animositäten derzeit sind: »Was Papa will und was nicht, ist mir in diesem Moment wirklich herzlich wumpe.«
Apropos wumpe: In diesem Moment fällt mir ein, dass sich mein Freund den ganzen Vormittag noch nicht gemeldet hat. Er ist im Skiurlaub, und als ich ihn heute Morgen um sieben Uhr aus dem Schlaf gerissen habe, hatte ich das Gefühl, dass er nur Bruchstücke von dem versteht, was ich ihm zu sagen hatte. Bei meinem Freund ist das nicht weiter verwunderlich, der schläft wirklich den Schlaf der Gerechten. Wenn ich ihn wecke und damit aus der Tiefschlafphase hole, sagt er manchmal so komische Sachen wie »Habt ihr es über die Grenze geschafft?« oder fragt, wo die anderen sind. Minuten später kann er sich an nichts mehr erinnern, und ich liege brüllend vor Lachen auf dem Boden, weil sein verdutztes Gesicht, wenn ich ihm davon erzähle, einfach zum Schreien komisch ist.
Dieses Mal stören mich sein allzu tiefer Schlaf und die posttraumatische Verwirrung aber sehr. Ich versuche, ihn auf dem Handy zu erreichen, und erwische ihn schließlich, als er mitten im Stubaital gerade aus der Gondel steigt.
»Daniel, wieso meldest du dich denn nicht?«
»Wieso, was ist denn passiert?«
»Alter, mein Vater ist im Krankenhaus!«
Daniel ist sprachlos. »Oh, krass. Dann war das gar kein Traum.«
»Nein, du Kamel!« Genau das hatte ich befürchtet.
Daniel fängt das Stottern an. »Ach, krass, und ich dachte noch, wieso träum ich so einen Mist … Wie geht’s ihm? Was ist passiert?«
Vielleicht ist es der Tatsache zuzuschreiben, dass ich mit dem einzigen Menschen telefoniere, an den ich mich anlehnen kann, vielleicht dem Umstand, dass ich seit Stunden funktioniere, ohne dabei den Verstand zu verlieren: In diesem Moment brechen bei mir alle Dämme.
Daniel scheint endlich zu begreifen, dass es sich nicht nur um einen Schnupfen
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