Aerztekind
handelt. Und fängt auch an zu weinen.
Na toll, ich dachte, jetzt bin ich mal an der Reihe.
»Ich komme sofort nach Hause«, sagt er, als er sich wieder gefangen hat.
»Nein, so ein Quatsch«, unterbreche ich ihn, »du kannst hier nix tun, wir sitzen auch nur rum.«
»Ist egal. Ich komme.«
Sofort packt mich das schlechte Gewissen, und ich kann verstehen, wie Papa sich fühlen musste, als Mama ihm angedroht hat, dass sie den nächsten Flieger nach China nimmt. Es ist absurd, denn eigentlich wünscht man sich nichts mehr, als dass der, den man liebt, bei einem ist. Man es gemeinsam durchsteht. Andererseits fühlt man sich schuldig, weil der andere seinen Urlaub, sein normales Leben, seinen Alltag aufgibt und alle Planung über den Haufen schmeißt, um bei einem zu sein. Der gravierendste Unterschied zwischen mir und meinem Vater ist dabei jedoch, dass mein Freund nur ein paar hundert Kilometer von mir entfernt ist, wir von meinem Vater etwas mehr als 9.000. Das ist eine ganze Ecke mehr. Ich kann mir also nur ansatzweise vorstellen, wie zerrissen mein Vater sich fühlen muss, wenn meine Mutter einen vollkommen überteuerten Flug nach Shanghai nimmt, um bei ihm zu sein. Gleichzeitig will keiner von uns in einer solchen Situation gern allein sein. Vielleicht ist tatsächlich jeder Mensch eine Insel, aber wenn das wirklich so ist, dann möchte ich zumindest beweisen, dass wir die Kanaren sind. Oder die Balearen. Oder irgendein griechischer oder philippinischer Archipel. Wir sind nicht Grönland! Oder Madagaskar. Oder die Falklandinseln. Wir lassen niemanden vom Team zurück, nur um den Auftrag zu Ende zu bringen. Wir sind der Auftrag.
4. Komm du mir nach Hause!
Am Ende des ersten Tags versammelt sich der Krisenstab im Wohnungsflur meiner Eltern. Mama und ich haben unsere Schlafanzüge inzwischen gegen richtige Kleidung eingetauscht, mein Freund ist nach einer staureichen Fahrt auch endlich zu Hause angekommen, Anne und Janek sitzen auf der Kommode und halten sich mit verlorenem Blick an den Händen.
Wir haben heute einiges getan und manches erreicht. Das Visum wird meine Mutter vor dem Wochenende sowieso nicht mehr erhalten, also wird sie es erst am Montag beantragen und frühestens Mittwoch in den Flieger steigen. Mir graut’s vor dem Wochenende. Was macht man an einem Wochenende wie diesem? Anne und Mama neigen zu einfachen Tätigkeiten (mal wieder mit der Hand spülen, Belege für die Steuererklärung sortieren, Dinge von A nach B tragen), und ich traf vorhin meine Mutter im Waschraum an, wo sie heulend ihre Strickjacke mit so einem Fusselrasiererdings bearbeitete.
»Ich mache nur Mist heute!«, schluchzte sie.
Anne wischte in der Zeit die Küchenschränke aus. »Muss ja, muss ja«, brabbelte sie.
Die Jungs standen den halben Tag deplatziert im Weg herum, zu hilflos, um sich eine eigene Aufgabe zu suchen, zu überfordert, um uns Lappen und Fusselrasiererdings aus der Hand zu nehmen.
Irgendwann beschließt Janek, dass wir alle Trostessen brauchen, und bestellt aus Solidarität mit Papa beim Chinesen. Und er bringt Glückskekse mit.
Mama lässt ihren Keks krachen und popelt das kleine weiße Papier aus den Kekshälften.
»Eine unabänderliche Situation sollte man sich zum Freund machen«, liest sie vor, dann sieht sie auf. »Was ist das denn für eine Kacke?«
Dann weint sie wieder.
Daniel knackt seinen Glückskeks. »Du wirst das Abenteuer finden, oder das Abenteuer findet dich.« Er sieht mich mit einem lieben Blick an. »Ja, stimmt, langweilig wird’s bei euch nie.«
Dann bin ich dran. Ich breche den Glückskeks durch und ziehe den kleinen Papierstreifen aus seiner Mitte. Was ich lese, macht mich für einen Moment sprachlos: »Fröhlichkeit und Mäßigkeit sind die zwei besten Ärzte.«
Ein Glückskeks ändert also tatsächlich nicht dein Leben.
Eine halbe Stunde später sitzen wir alle appetitlos und schweigend am Tisch und kauen auf den geschmacklosen Sojasprossen des Chopsueys rum. Mama, Anne und ich haben unsere Migränegesichter. Wir sind bleich und haben große dunkle Ringe unter den Augen. Noch hat keine von uns Kopfschmerzen, aber wir wissen, dass das viele Geheule am heutigen Tag seinen Tribut fordern wird. Daher nehmen wir alle vorsichtshalber eine Schmerztablette. Daniel hat zwar keine Schmerzen, nimmt sicherheitshalber aber auch eine.
Es ist seltsam, aber gerade sind wir nicht wie eine Familie, sondern eher wie ein Rudel, das versucht, möglichst viel Nestwärme herzustellen. Wenn
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