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Aerztekind

Aerztekind

Titel: Aerztekind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carolin Wittmann
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involviert sind. Man nennt das Befangenheit. Das ist die Unfähigkeit, objektiv zu entscheiden und zu beurteilen. Ich stelle hiermit einen Antrag, dass der gesamten Weißkittelfraktion, und damit meine ich wirklich jeden Arzt, egal ob Pneumologe, Diabetologe oder ordinärer Landarzt, kategorisch und systematisch verboten wird, sich selbst zu behandeln. Diese Form der grenzenlosen Selbstüberschätzung der eigenen Gesundheit endet nämlich bestimmt in viel zu vielen Fällen tödlich.

3. Reif für die Insel
    Die kommenden Stunden gehen vorbei wie im Flug, auch wenn selbiger nach China wohl noch bis nach dem Wochenende warten muss. Wir telefonieren viel, sprechen mit den Angestellten meines Vaters und reaktivieren Dr. Kalbfleisch, der die Praxis in den letzten Wochen geführt hat. Wir rufen bei Freunden und bei der Familie an, und dass das Netzwerk funktioniert, bemerken wir daran, dass wir plötzlich auch von den Leuten angerufen werden, die wir noch gar nicht erreicht haben.
    Die Nachricht, dass mein Papa, der Mann, der nie krank wird, Dr. Wittmann, Verzeihung: nur Wittmann, nun doch krank geworden ist, und zwar nicht zu knapp, zieht große Kreise. Alle sorgen sich um ihn. Mein Vater, das merke ich an diesem Tag einmal mehr, ist ein beliebter Mensch. Ein bescheuerter, egoistischer, adrenalingeiler, aber ausgesprochen beliebter Mensch. Immer wieder bieten sich unsere Freunde an, ihre Kontakte rund um die Welt spielen zu lassen. Der Mann einer unserer langjährigen Arzthelferinnen gibt uns die Nummer einer Visumsagentur, ein anderer kennt jemanden, der Chinesisch spricht. Und wieder ein anderer sagt, dass er jemanden kennt, der jemanden kennt, der von einem anderen gehört hat, dass er schon mal in Shanghai gewesen sei. Alle helfen mit, irgendwie, und wir bekommen so viel Hilfe angeboten, dass wir gar nicht wissen, was wir damit anfangen sollen. Vielleicht könnte mal jemand vorbeikommen und uns unter die Dusche stecken, denn zwei Drittel des Krisenstabs sind noch im Schlafanzug und fangen langsam an zu müffeln.
    Meine Schwester muss in die Schule. Meine Mutter und ich bleiben zurück, die Handys in der Hand, den Laptop auf dem Schoß. Die Reederei schreibt und schickt uns den Kontakt zu ihrem Agenten in Shanghai, außerdem den Namen und die Anschrift des Krankenhauses, in dem sich mein Vater befindet. Langsam tröpfeln die Informationen ein, und noch viel langsamer setzt sich vor unseren Augen ein Bild zusammen. Wir begreifen nach und nach, was passiert ist. Und so dämmert uns auch, dass wir keinen Flug buchen müssen, wenn wir noch kein Visum haben, um nach China einzureisen.
    »Die schicken Sie direkt wieder zurück, wenn Sie in China ankommen«, sagt der Mann unserer Arzthelferin, der sich auszukennen scheint. »Ich trau mich fast nicht, es Ihnen zu sagen, aber die haben jetzt Wochenende in der Botschaft.«
    Ich schaue auf die Uhr. Es ist grad mal kurz nach zehn! Nicht mal deutsche Beamte machen da Feierabend. Höchstens mal eine kleine Kaffeepause.
    »Sie werden frühestens wieder am Montag aufs Konsulat gehen und ein Eilvisum beantragen können. Das dauert dann mindestens zwei Tage, bis Sie das bekommen – rechnen Sie also nicht vor Mittwoch damit, nach China fliegen zu können.«
    Wow. Das sind beeindruckend schlechte Neuigkeiten. Irgendwie beschleicht mich das Gefühl, in einer echt miesen Zeitmaschine ins Mittelalter gereist zu sein. Was ist denn mit diesen ganzen Staatenbündnissen eigentlich passiert? Wir sind in der UNO , in der NATO , haben Kulturprogramme mit Hongkong und bestellen zweimal im Monat Pekingente beim Chinesen um die Ecke, aber in einem außerordentlichen Notfall können wir nicht nach China einreisen, sondern müssen ein unerträglich langes Wochenende zu Hause rumsitzen und die Füße stillhalten. Wir haben wirklich »Glück«, dass Papa offensichtlich nicht in Lebensgefahr schwebt. Was wäre gewesen, wenn uns das Krankenhaus angerufen und uns mitgeteilt hätte, dass meinem Vater nur noch achtundvierzig Stunden blieben? Würde man dann ein Eil-Eilvisum bekommen? Vermutlich nicht. Man säße dann also in Deutschland und wüsste, dass man nichts machen könnte, außer ein paar Glückskekse zu knacken, weil die Chinesen in der Botschaft nach halb zehn am Freitagvormittag keine Anträge mehr annehmen. Oder passiert so was nur in Grey’s Anatomy? Und ist das Szenario nur dann denkbar, wenn man jemanden kennt, der über einen Learjet und eine internationale Flugerlaubnis verfügt?
    Überhaupt

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