Aerztekind
geworden, und selbst der Wohlstandsbauch war offenbar in China geblieben.
»Deine Mutter ist einfach die beste Medizin«, lächelte er, und seine Augen wurden zu meiner großen Verwunderung glasig. »Schön, dass ich wieder da bin.«
»Daheim«, sagte ich und schluckte.
»Daheim.«
EPILOG
»Guckt mal!« Kichernd kommt mein Vater aus dem Badezimmer gedüst. Er ist mit nichts anderem als seinen Thrombosestrümpfen bekleidet. Mit wirklich nichts anderem.
»Oh bitte!«, kreischt Anne und hält sich die Augen zu.
»Schick, was?« Papa grinst und eilt weiter ins Schlafzimmer, um sich dankenswerterweise etwas anzuziehen.
»Ist das normal, dass der schon wieder so gut drauf ist?«, frage ich meine Mutter.
Papa ist seit drei Wochen wieder daheim. Direkt nach ihrer Ankunft haben meine Eltern erst einmal einen zweiwöchigen Spontanurlaub in unserem Ferienhaus eingelegt, wo mein Vater natürlich nichts Besseres zu tun hatte, als den ganzen Tag durch die Gegend zu rennen, viel zu schwer zu heben und sich viel zu wenig auszuruhen.
Also machte meine Mutter eine kompromisslose Ansage und verbot ihm nach der Heimkehr, in den kommenden drei Monaten mehr als sechs Stunden am Tag zu arbeiten oder nach Nachtschichten den normalen Praxisalltag aufzunehmen. Anfangs wehrte er sich noch, aber klammheimlich ist er doch ein bisschen froh, dass er eine so resolute Frau an seiner Seite hat, die ihn das Fürchten lehrt. Immerhin sind sein Herz und seine Lunge nach wie vor stark vergrößert, und die Thrombosestrümpfe, die er sich jeden Tag brav über die dürren Waden streift, sind nur ein kleiner Teil des Tributs, den er seiner Gesundheit nun zollen muss.
Aber ich kann es nicht leugnen: Dafür, dass er vor ein paar Wochen noch am Ufer des Jordans stand und ein paar Steinchen ins Wasser schmiss, geht es ihm heute schon wieder bemerkenswert gut.
»Wart nur ab, das wird ihm eine Lehre sein«, hatten Bekannte meiner Eltern und Freunde von mir am Anfang seiner Genesung gesagt, aber mir kam dieser Optimismus mehr als fragwürdig vor. Ich konnte mir zu keiner Zeit vorstellen, dass mein Vater aus irgendetwas eine Lehre zieht, besonders nicht, wenn er so glimpflich davongekommen war. Und die Wirklichkeit sollte mir recht geben.
»Es gibt«, fängt meine Mutter mit ihrer Erklärung an, »genau zwei Sorten von Menschen. Die einen ändern ihr Leben. Das sind meistens die, die entweder eine sehr schmerzhafte Krankheit oder eine sehr lange Genesungsphase hatten. Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall – alles, was lange dauert, bis man wieder auf dem Damm ist. Und dann gibt es die anderen, zu denen natürlich auch dein Vater gehört. Das sind die, die Blut geleckt haben. Die gemerkt haben, wie kurz das Leben ist, und die die verbleibende Zeit nicht in Schonhaltung verbringen, sondern das Leben mit vollen Händen ausschöpfen wollen.«
Seien wir ehrlich: Alles andere hätte mich auch sehr gewundert. Die größte Aufgabe von Eltern ist, ihre Kinder irgendwann aus der Obhut zu geben und sie vertrauensvoll ihren eigenen Weg gehen zu lassen. Die größte Aufgabe von Kindern ist, zu akzeptieren, dass man die eigenen Eltern nicht ändern kann und sich am besten so schnell wie möglich mit den Gegebenheiten, und seien sie noch so fragwürdig, abfindet.
Meine Schwestern und ich werden uns daran gewöhnen müssen, dass unser Vater immer auf einem dünnen Drahtseil zwischen Todessehn- und Kontrollsucht balancieren wird. Er wird sich nie ausruhen, nur weil ihm einer sagt, dass er eine Pause braucht. Er wird seine aktinische Keratose nicht behandeln lassen, nur weil ihm ein befreundeter Hautarzt sagt, dass er das machen sollte. Er wird nicht weniger er sein, nur weil seine Familie manchmal mit dem sehr viel er zu kämpfen hat. Und er wird niemals, wirklich niemals auf die Idee kommen, sich vom Leben vorschreiben zu lassen, wie er es zu bestreiten hat. Das ist die natürliche Arroganz der Weißkittel. Und ich finde mich lieber so schnell wie möglich damit ab, dass mein Vater immer mit dem Feuer spielen wird, anstatt über die Kälte zu jammern.
Das einzige Opfer, das er zu bringen bereit ist (außer den Strümpfen, die er mit beinahe kindlichem Eifer trägt), sind die blutverdünnenden Tabletten, die er jeden Tag einnimmt. Die blöden Dinger kosten acht Euro am Tag. Acht Euro! Das kann ich nicht mal verrauchen, und das kann sich wirklich nur ein Arzt leisten. Nicht, dass er irgendetwas auf die Nebenwirkungen oder die eigentlich zwangsläufigen Veränderungen,
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