Aerztekind
die eine permanente Einnahme von Blutverdünnern mit sich bringt, geben würde. Ein weniger riskantes Leben führen, nur weil man bei einem Sturz vom Fahrrad verbluten könnte? So ein Quatsch!
Aber mein Vater wäre nicht mein Vater, wenn er sich um derlei Nebensächlichkeiten auch nur eine Sekunde scheren würde.
Vor ein paar Tagen erzählte er uns ganz nebenbei, dass er immer noch versuche, hinter das Geheimnis zu kommen, warum er von der Thrombose so gar nichts gespürt habe. Normalerweise erleiden Menschen, deren Venen verstopfen, fürchterliche Schmerzen. Mein Vater war die ersten Wochen auf dem Schiff quietschfidel und wurde erst misstrauisch, als ihm die Luft wegblieb – und selbst da vermutete er eher eine Herzmuskelentzündung als eine durch Thrombosen verursachte Lungenembolie. Von einer Verstopfung in seinen Beinen merkte er rein gar nichts.
»Vielleicht habe ich einen positiven Leiden-Faktor«, erklärte er uns.
»Bitte was?« Mir blieb die Spucke weg.
Wenn mein Vater eines nicht hatte, dann einen stark ausgeprägten Leidenfaktor!
»Nein, nein, ich meine es ernst. Es gibt eine Genmutation, die sogenannte Faktor-V-Leiden-Mutation. Etwa fünf Prozent der gesamten europäischen Bevölkerung sind Träger der Mutation. Und das Beste: Weil die standardmäßige Überprüfung auf den Gendefekt zu teuer ist, wird darauf komplett verzichtet. Das heißt, dass da draußen Millionen von Menschen rumlaufen, die nicht wissen, dass sie einen Blutgerinnungsdefekt haben. Ich habe von einer jungen Frau gelesen, die hatte vier Fehlgeburten, und erst als sie an eine Ärztin geriet, die sie positiv auf den Leiden-Faktor testete und ihr dann Blutverdünner verschrieb, hat sie ein gesundes Kind geboren.«
»Moment mal«, insistierte ich. »Du sagst Mutation – demnach ist es erblich?«
»Ja.«
»Aber doch bitte nicht dominant.«
»Na klar dominant, sonst könnte es sich ja nicht so verbreiten.«
»Heißt das, dass ich mich mal untersuchen lassen sollte?«
»Du? Warum? So ein Unsinn!«
Papa war also wieder ganz der Alte.
»Würdest du dich dann bitte mal testen lassen?«
Mein Vater nickte geistesabwesend. »Ja, ja. Irgendwann.« Er war in Gedanken schon wieder ganz woanders.
»Wisst ihr, wovor ich am meisten Angst hatte?«, sagte er plötzlich, und wie immer, wenn er das Thema anschnitt (was selten passierte, natürlich), legte sich ein Schatten auf sein Gesicht, und sein Blick wies in weite Ferne.
»Du hattest Angst, dass du stirbst«, schlug Anne vor.
»Nein. So ein Unsinn. Vorm Sterben hatte ich natürlich keine Angst.«
Natürlich nicht.
»Uns nicht wiederzusehen?«, fragte ich hoffnungsvoll.
Papa wedelte meinen Vorschlag mit einer Hand beiseite.
»Auch – aber vor allem hatte ich Angst, wie Tante Erika in einem Bett zu enden, als Pflegefall, und jemand anderes muss mir den Hintern abwischen. Oder wie Opa, im Krankenhaus an vielen Schläuchen und Geräten, die mein Leiden dann verlängern. Wenn ich nicht mehr das Leben führen kann, das ich jetzt führe, dann gibt es für mich keinen Grund, weiter auf dieser Erde zu weilen.«
Ich schwieg. Mein Vater hatte also mehr Angst davor, ein Pflegefall zu werden, als zu sterben.
»Deswegen habe ich mit Mama auch eine Vereinbarung getroffen«, fuhr er fort. »Wenn der Fall eintreten sollte, dass ich mich nicht mehr allein versorgen kann, dann wird sie mir eine Spritze geben.«
»Was für eine Spritze?« Juliane riss die Augen auf.
Wir hatten Gift im Haus? Gut zu wissen.
»Insulin. Da schläft man ganz friedlich ein, und aus die Maus.«
»Äh, schon mal was vom hippokratischen Eid gehört?«
»Aber der gilt doch nicht für Mama!«
»Okay, was ist mit der Bibel? Du sollst nicht töten? Gilt das für Mama auch nicht?«
»Papperlapapp! Das ist ja auch kein Mord. Das ist die freundliche Unterstützung beim vorzeitigen, aber selbstbestimmten Ableben.«
Moment mal – mein Vater verlangte von meiner Mutter, dass sie ihm die Todesspritze gab, wenn er beschloss, dass sein Leben nicht mehr lebenswert genug war? Was maß sich dieser dickköpfige, halsstarrige Mensch da eigentlich an? Was war denn bitte mit uns? Mit seinen Töchtern? Der Frucht seiner Lenden? Und seinen Enkeln, die es zwar noch nicht gab, die aber garantiert kommen und sicher auch ganz gern ihren Opa kennenlernen würden? Waren wir nicht Grund, ein paar Einbußen in Kauf zu nehmen, statt sechsmal im Jahr nur dreimal zu verreisen und seinen Lebensabend in besinnlicher Eintracht mit meiner Mutter auf
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