Aeternum
zerfetzten Seraphs schob sich vor ihr inneres Auge. Ihr wurde übel. Hatte sie das getan? Hatte sie wirklich versucht, einen Engel zu töten? Schaudernd schlang sie die Arme um ihren Körper. Sie war Einbrecherin, keine verdammte Mörderin.
Sie ballte die Hände zu Fäusten, damit sie nicht zitterten, während sie Jul in einen Tunnel folgte, in dem Schienen im Licht der Taschenlampe glänzten. Sie hatten es geschafft, die Oberfläche konnte nicht mehr weit sein. Kurz atmete Amanda erleichtert auf.
Doch je schneller die Wirkung des Blutes nachließ, desto drängender schob sich Roman in ihre Gedanken. Wo war er? Hastig kratzte sie alles zusammen, was ihr an Magie geblieben war, und konzentrierte sich auf ihren Bruder. Ein Bild flackerte in ihrem Geist auf. Seine Augen waren geschlossen, die Züge entspannt. Er lag auf der Matratze, die ihm seit einem Jahr als Bett diente. Amanda erkannte die Wände seines Gefängnisses ringsum. Ihr Magen krampfte sich zu einem festen Klumpen zusammen. Es war alles, wie Jul gesagt hatte. Michael hatte sie betrogen.
Sie streckte ihren Geist, versuchte nach Roman zu greifen. Sie wollte verdammt sein, wenn sie ihn noch länger in Balthasars Gewalt ließ. Doch das Bild verschwamm, wurde immer undeutlicher. Dann war es fort, und sie blickte in Augen, die bläulich grün schimmerten wie das Eis der Arktis. Jul hielt sie bei den Schultern, und sie glaubte so etwas wie Besorgnis in seinen Zügen zu lesen.
»Alles in Ordnung?«
Nein, überhaupt nichts war in Ordnung. Ihr Bruder würde sterben, und sie ebenfalls, wenn sie nicht unwahrscheinliches Glück hatte. Und obendrein wurde von ihr erwartet, dass sie die Welt rettete. Wie kam er überhaupt auf die Idee, dass alles in Ordnung sein könnte?
Doch Amanda wusste, dass die Frage so nicht gemeint war. Sie atmete tief durch. Dann nickte sie. Sie wünschte nur, sie hätte früher versucht, ihren Bruder zu finden, ihn zu sich zu holen. Das Gefühl von Macht, das mit der Wirkung des Dämonenblutes kam, hatte ihr vorgegaukelt, sie hätte Zeit genug.
»Die Wirkung lässt nach.« Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren heiser.
Jul schenkte ihr ein Lächeln, das jedoch gezwungen wirkte. »Immerhin hat es ausgereicht, uns beiden einmal das Leben zu retten. Die Seraphim können alles in ihrem Licht verbrennen, das ihnen zu nahe kommt.«
»Spar dir das. Ich habe fast einen Engel getötet. Das kannst du nicht toll finden.« Sie entzog sich seinem Griff, ging ein paar Schritte von Jul fort. Nicht an den zerfetzten Engel denken, nicht an Roman. Sie musste sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag. Aber was sollte sie tun? Ihr Bruder saß noch immer im Haus des Dämons fest, den sie verraten hatte. Eine Horde wütender Seraphim war wahrscheinlich hinter ihnen her. Und als wäre das noch nicht genug, ging die Welt unter, und ausgerechnet der Teufel persönlich hatte ihnen die Verantwortung aufgeladen, sie zu retten.
Seit Balthasar sie gefangen hatte, hatte sie nicht geglaubt, dass es noch schlimmer kommen konnte. Sie hatte sich geirrt.
Tränen liefen ihr die Wangen hinab, während die letzten Reste ihrer magischen Macht versickerten. Sie fühlte sich zerschlagen und erschöpft, wollte nichts lieber tun, als sich irgendwo zusammenzurollen und zu schlafen.
Jul stand plötzlich neben ihr, ohne dass sie seine Schritte gehört hatte. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie war angenehm warm, nicht glühend heiß wie die von Luzifer.
»Du hast getan, was du tun musstest. Niemand macht dir deswegen Vorwürfe.«
Amanda sah ihn überrascht an. In seinem Blick standen weder Abscheu noch Misstrauen. Seine Miene war ernst und ließ seine Worte sehr viel ehrlicher wirken, als ein Lächeln es getan hätte. Er konnte nicht wissen, wieso sie tatsächlich weinte, doch der Versuch, sie zu trösten, stellte mehr menschliche Wärme dar, als sie im gesamten vergangenen Jahr erfahren hatte. Es war seltsam ungewohnt.
Amanda atmete tief durch, und schließlich gelang es ihr, die Tränen zurückzudrängen. Sie schniefte, wischte sich mit dem Ärmel ihrer Bluse das Gesicht trocken. Es nützte nichts, in diesem U-Bahn-Tunnel zu stehen und zu heulen. Sie musste etwas unternehmen, und sie wusste auch schon, was. Sie hatte nur eine Möglichkeit, und die hieß Baal.
»Ich werde diese Waffe suchen und Gott töten.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Krächzen. Amanda räusperte sich, ehe sie fortfuhr. »Ich nehme nicht an, dass du mitkommen willst. Aber ich wäre
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