Aeternum
Fäuste. Er musste endlich damit abschließen. Diesmal war es seine Entscheidung gewesen. Er hatte die Wahl gehabt und endgültig mit der Schar gebrochen. Nun war es zu spät für Reue. Er zwang alle Gedanken an seine Schwingen beiseite und sah sich weiter um.
Links von ihm spannte sich die Friedrichsbrücke über die Spree, und von dort führte eine Straße am Säulengang vorbei, zwischen dem Alten und dem Neuen Museum hindurch, die sich rechter Hand von ihm erhoben, bis zur anderen Seite der Museumsinsel. Die Gebäude standen still und verlassen da, keine Menschenseele wagte sich nach draußen. In kürzester Zeit schien Berlin zu einer Geisterstadt geworden zu sein, durch deren Straßen nur noch übernatürliche Wesen streiften.
Lange würde es so nicht bleiben. Bald würden Panzer durch die Straßen rollen, egal womit die Engel drohten. Die Menschen würden nicht mit eingezogenen Köpfen zusehen, wie der Kampf zwischen Himmel und Hölle ihre Städte zerstörte. Die Frage war nur, wie viel Einfluss die Dämonen besaßen und ob sich das Militär auf ihre Seite schlagen würde.
Ein Scharren neben ihm riss Jul aus seinen Gedanken. Amanda trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Krätschmer hätte sich ruhig einen anderen Treffpunkt aussuchen können. Was, wenn uns ein Engel hier entdeckt?« Mit sorgenvoller Miene sah sie zum Dom hinüber, dann wickelte sie sich enger in ihre Jacke. Es war kühl geworden.
»Hier wird er immerhin nicht versuchen können, dich mit Gewalt heimzuholen. Zumindest nicht, ohne unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.« Dennoch hatte Jul bei diesem Treffen kein gutes Gefühl. Der Dämonendiener hatte am Telefon nur verraten, dass er etwas wusste, hatte dann auf ein Treffen mit Amanda bestanden. Was plante er?
Wahrscheinlich stellte sich Amanda dieselbe Frage. Sie wirkte angespannt, hatte die Schultern hochgezogen und die Arme um ihren Körper geschlungen, als könne sie sich so vor all dem Übel der Welt schützen. Ließ sie ihn bewusst immer öfter hinter ihre starke Fassade blicken, oder fehlte ihr inzwischen schlicht die Kraft, sie lange aufrechtzuerhalten? Sie hatte am Nachmittag nur kurz geschlafen, und inzwischen war es beinahe Mitternacht. Sicher forderte die Erschöpfung ihren Tribut.
Sie sah auf, begegnete seinem besorgten Blick. »Vielleicht ist der Dom das Hauptquartier, das wir gesucht haben? Vielleicht will er uns das zeigen?«
Jul runzelte die Stirn. »Das könnte er dir an einem sichereren Ort auch einfach sagen. Dafür müsste er dich nicht ausgerechnet hierherbestellen.«
Amanda biss sich auf die Unterlippe. »Was, wenn Balthasar inzwischen wieder aufgetaucht ist?«
Dieser Ausdruck in ihren Augen, sobald die Sprache auf ihren Meister kam. Er erinnerte Jul an ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte. Er hätte sich doch gegen Karins Idee aussprechen sollen, den Dämon zu kontaktieren. Es tat ihm beinahe körperlich weh, Amanda in einer solchen Bedrängnis zu sehen.
Er schüttelte den Kopf, versuchte ihn wieder klarzukriegen. Was geschah nur mit ihm? Noch nie hatte er eine so heftige Reaktion auf die Not eines Menschen erlebt. Dies war kein Mitleid, keines der neuen Gefühle, die der Biss in den Apfel ihm geschenkt hatte. Es erinnerte ihn mehr an das, was er beim Anblick des Herrn am Grund des Kraters empfunden hatte. Oder an Samael, der wütete wie ein Dämon, während die Schar ihn von seiner menschlichen Geliebten trennte. Samael, von dem er Amanda am Nachmittag noch erzählt hatte. Konnte es sein …?
Das Summen des Handys unterbrach seine Gedanken. Jul zog es aus der Tasche seiner löchrigen Jeansjacke. Die Nachricht auf dem Bildschirm war von Karin: »Sie kommen. Fünf Leute, Sturmgewehre.«
Gleich fünf? Und bewaffnet? Juls Hand kroch unter die Jacke zu seiner Waffe.
Amanda beugte sich zu ihm herüber, um die wenigen Worte ebenfalls zu lesen. Sofort versteifte sie sich, spähte die Straße entlang, zwischen Neuem und Altem Museum hindurch. Dort hinten irgendwo hatte Karin Stellung bezogen, schien dies doch die wahrscheinlichste Richtung, aus der Krätschmer kommen konnte. Offensichtlich hatten sie richtig getippt.
»Wir können immer noch verschwinden.« Er warf ihr einen fragenden Blick zu. »Fünf schwer bewaffnete Männer sind zu viel für ein einfaches Treffen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist unsere einzige Spur.« Kurz loderte verzweifelte Entschlossenheit in ihren Augen auf, dann wurde ihre Miene hart und undurchdringlich.
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