Aetherhertz
Eltern. Die Männer setzten sich im Salon hin und zündeten sich eine Zigarette an. Peter Falkenberg schenkte allen ein Glas Cognac ein, dann schwiegen sie eine ganze Weile.
Schließlich brach der Anwalt das Schweigen: „Wenn sie wirklich verdorben ist, dann wird es schwierig mit der Stiftung.“
Paul sah auf. „Das ist es also, woran du denkst.”
Peter Falkenberg schüttelte den Kopf. „Ich muss mich da ins Recht einlesen. Ich bin nicht vorbereitet. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Stiftungsvorstand sich darauf einlässt.“
„ Worauf?“
„ Nun, einer Verdorbenen den Lebensunterhalt zu bezahlen.“ Peter Falkenberg sagte das ganz nüchtern.
„ Aha.“ Paul spürte Galle seine Speiseröhre hochsteigen. Er sah sich im elterlichen Salon um. Seine Mutter hatte diesen Raum sehr schlicht ausgestattet. Er wusste, dass sie eigentlich einen anderen Geschmack hatte. Aber sie richtete sich zumindest nach außen immer nach den Wünschen ihres Mannes. Es war kalt, nicht im physischen Sinn, sondern es gab hier keine Hinweise auf die Persönlichkeit der Bewohner.
Eine Persönlichkeit zu haben, hieß ja auch zu wagen, dass man anders war, als es der allgemeine Zeitgeist vorschrieb. Peter Falkenberg hatte nie etwas anderes als gutbürgerlich sein wollen.
Die Veränderungen, die der Æther in Menschen auslöste, waren unvorhersehbar, bedrohlich und daher gefährlich. Sie konnten nicht toleriert werden, deshalb wurden die Verdorbenen aus der Gesellschaft entfernt, und niemand fragte mehr nach ihnen.
Niemand? Paul wusste durch Friedrich sehr wohl, dass es Fragen gab. Diejenigen, die es sich nicht leisten konnten, dem Æther auszuweichen, umzuziehen, unverseuchtes Essen zu kaufen, waren am häufigsten von Veränderungen betroffen. Regelmäßig gab es in den ärmeren Vierteln Unruhen, wenn zu viele Verwandte weggesperrt wurden. Dann wurden Friedrich und die Blitzmänner eingesetzt, um mit Gewalt Ruhe zu schaffen.
Was geschah aber wirklich mit den ganzen Gefangenen? Wo brachte man sie hin, was machte man dort mit ihnen? Paul musste sich eingestehen, dass auch er bis jetzt die Augen zu gemacht hatte. Seit er lange Hosen trug, wurden in seiner Welt Märchengestalten zur Wirklichkeit. Er kannte all die Schauergeschichten von Männern, die sich plötzlich in Wölfe verwandelten, von Frauen, die mit ihrem Geschrei jemanden in den Wahnsinn treiben konnten, von Kindern, denen Flügel gewachsen waren, mit denen sie sogar fliegen konnten.
Aber es war alles weit weg gewesen. Es passierte immer anderen. Nur einmal hatte er es näher erlebt, als ein Junge aus seiner Schulklasse nicht mehr gekommen war. Die Lehrerin erzählte entsetzt, der Junge habe sich eines Nachts aus seinem Zimmer geschlichen und war in den Dorfteich gegangen: Am nächsten Tag hatte man ihn dort herausgefischt, aber er starb kurz danach: Er konnte an Land nicht mehr atmen, ihm waren Kiemen gewachsen.
Paul trank seinen Cognac in einem Zug aus. Der Alkohol rann ihm heiß die Kehle und die Speiseröhre herunter. Das war gut. Er spürte noch etwas. In seinem Kopf summte es.
Es konnte nicht sein. Annabelle war keine Verdorbene. Das hätte er doch merken müssen.
„ Annabelle ist nicht verdorben.“ Er wollte es noch einmal laut sagen.
„ Woher willst du das wissen?“, fragte sein Vater streng.
„ Das hätte ich gespürt!“
„ Du wolltest es nicht spüren. Du wolltest etwas ganz anderes von dem Fräulein, und ich bin froh, dass es nicht so weit gekommen ist.“
Paul sah seinen Vater direkt an. Das Summen in seinem Kopf wurde lauter.
„ Papa, lass Paul jetzt in Ruhe“, versuchte Friedrich zu schlichten.
„ Nein, ist schon in Ordnung“, sagte Paul. „Er soll es ruhig sagen. Es tut nichts zur Sache. Ja, ich hätte nicht mehr lange gewartet, bis ich Annabelle um ihre Hand gefragt hätte, und ich sehe keinen Grund, es nicht zu tun, außer, dass sie gerade völlig unschuldig eingesperrt wurde.“
„ Du wirst keine Verdorbene heiraten.“
„ Und du hast mir nichts zu befehlen”, sagte Paul täuschend ruhig.
„ Wartet doch die Untersuchung ab“, mischte sich Friedrich ein.
„ Es war mir von Anfang an klar, dass im Hause Rosenherz nicht alles mit rechten Dingen zugeht.“ Peter Falkenberg stand auf und schenkte sich noch ein Glas ein.
Paul stand auch auf. Ihm war heiß und kalt. Er musste sich so sehr beherrschen, dass er die Zähne zusammenpresste, bis sie knirschten. „Ich weiß, mit wem ich sprechen muss. Vielleicht musst du dich
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