Aethermagie
Wieder kratzte die Feder übers Papier. »Sie haben Namen gerufen.«
Kato hob das Kinn und starrte den Professor trotzig an. »Ich erinnere mich nicht«, sagte sie eisig. »Da war so etwas wie eine Landschaft, aber ich habe sie nicht deutlich sehen können. Mehr weiß ich nicht.«
»Hm.« Er strich sich durch den Bart. »Das sind durch den Æther hervorgerufene Halluzinationen. Jeder Proband sieht dort etwas anderes, oft auch eine Art Lebewesen, die diese Szenerie bevölkern. Sie nicht? Nun gut. Lassen wir das. Ich möchte das Ganze heute Abend wiederholen. Wir werden Sie vorher einer Wärmebehandlung unterziehen, damit wir die Verweildauer im Ætherraum ausdehnen können. Und ich möchte Sie bitten, wenn Ihnen eine Erscheinung begegnet: Halten Sie sie fest. Befehlen Sie ihr, zu bleiben und Ihnen zu folgen. Das ist von existenzieller Bedeutung für Ihre Genesung, Fräulein von Mayenburg! Haben Sie mich verstanden? Sie möchten doch nach Hause zurückkehren, oder?«
Kato konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. Sie nickte und wich seinem Blick aus. Er lächelte. »Sehen Sie. Nun lassen Sie uns an unser letztes Gespräch anknüpfen. Erzählen Sie mir bitte, woran Sie sich erinnern, wenn ich Sie nach Ihrem letzten Beisammensein mit Ihrem Vater frage.«
Die Frage war wie ein kalter Guss Wasser, der ihren Kopf traf. Sie riss die Augen auf und konnte gerade noch einen Aufschrei wieder herunterschlucken. »Mein … mein Vater?«, stammelte sie. Bilder. Ungebetene, schreckliche Bilder. Der Maskenball. Kostümierte, lachende, tanzende Menschen, farbensprühende Kostüme, parfümierte Luft, das Klingen von Glas und Musik … und dann der Aufschrei einer Frau. Die weiß gekleidete Harlekinsfigur, die langsam, wie eine Stoffpuppe, mit schlenkernden Gliedern von ihrem Sitz rutschte und zu Boden fiel. Das reglose Maskengesicht und dahinter der glasige, starr werdende Blick der vertrauten, geliebten Augen ihres Vaters … Kato hörte sich schluchzen, während sich weitere Bilder vor ihrem inneren Auge abspulten. Jemand schrie nach einem Arzt. Ihre Stiefmutter kniete neben dem zusammengesunkenen Körper des Barons, riss an seinem Oberteil, rief seinen Namen. Die Hand ihres Vaters auf dem Boden, zuckende Finger, dann nur noch leblose, stille Bewegungslosigkeit. Der Arzt, der ihm den Brustkorb massierte, Atem in seine Lungen blies, sich aufrichtete, kopfschüttelnd. Eine Frau, die ihre weinende Stiefmutter beiseiteführte, ein Riechfläschchen bereithaltend. Sie selbst, die wie eine Salzsäule inmitten des Trubels stand, sich nicht bewegen konnte, innerlich schrie, schrie, schrie …
Ihr Atem ging schnell und flach. Sie drückte die Hände gegen ihre Rippen und zwang sich zur Ruhe. »Ich erinnere mich an seinen Tod«, sagte sie um Fassung bemüht. »Ich möchte darüber nicht nachdenken oder sprechen. Es ist nicht mehr zu ändern.«
Der Arzt nickte und notierte sich etwas. »Fräulein Kato«, sagte er langsam, tastend, »es wäre von Nutzen, wenn Sie den Abend des Kostümfestes noch einmal kurz mit mir durchgingen. Gehen wir zurück an den Punkt, wo Sie mit ihren Eltern in die Kutsche stiegen.« Er ließ den Satz in einer halben Frage ausklingen und sah sie erwartungsvoll und ermunternd an.
Kato kniff die Lippen zusammen. Der Abend hatte unerfreulich begonnen. Es hatte einen schrecklichen Streit gegeben, als ihr Vater die Kostümierung erblickte, in der Kato den Ball besuchen wollte. Ihre Stiefmutter hatte zu vermitteln versucht, aber es war ihr nicht gelungen, den Freiherrn zu besänftigen. Er hatte gebrüllt wie ein Stier und einen feuerroten Kopf bekommen, und Adelaïde hatte immer nur »denk an dein Herz, Lieber, denk doch an dein Herz« gerufen und die Hände gerungen.
Kato schauderte und schlang die Arme um sich. »Ich bin schuld«, wisperte sie.
»Bitte?«
Kato wich dem bohrenden Blick aus. »Ich bin schuld«, wiederholte sie laut. »Er hat sich schrecklich aufgeregt. Die Frau Mama hat ihm seine Tropfen gebracht, aber er hat sie nicht nehmen wollen.« Sie blinzelte Tränen weg und schluckte. »Er wäre noch am Leben, wenn ich nicht meinen Dickkopf durchgesetzt hätte.«
Etwas wisperte an ihrem Ohr vorbei. Die Luft sang. Ihre Schulter fühlte sich feucht an, und es war ihr, als rännen kalte Wassertropfen wie Tränen ihren Nacken hinunter und über ihren Rücken. Es kitzelte.
»Was haben Sie?«, fragte der Professor scharf.
Kato regte die Schultern und drehte den Kopf, fuhr mit der Hand über ihren Nacken. Trocken.
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