AFFÄREN, DIE DIE WELT BEWEGTEN
Frömmigkeit beanspruchen durften als andere Menschen außerhalb der Klostermauern, die vielleicht gottgefälliger lebten. Luther fand in seinem Denken keine Antworten auf die Fragen, die er – ketzerisch in den Augen der Kirchenobrigkeit – stellte. Armut, Gehorsam, Keuschheit und Arbeit allein konnten in Luthers Denken keine Garantie für das Seelenheil sein. Denn der Mönch las die Bibel genau, zitierte etwa Paulus in dessen Brief an die Römer (3,22): „Die Gerechtigkeit Gottes kommt durch den Glauben an Jesus Christus.“ Das Seelenheil erlange der Mensch ausschließlich durch den Glauben an Christus. „Sola fide“ wird damit zu einem Eckpfeiler des evangelischen Denkens.
1521 schrieb Luther eine Abrechnung mit dem Mönchstum und forderte alle Mitbrüder und Mitschwestern auf, ihren Gelübden zu entsagen. Die Schrift „De Votis Monasticis Iudicium“ explodierte als ideengeschichtliche Bombe in einer unsicheren Zeit. Luthers Forderung: „Werdet andere Mönch und Nonnen oder lasst Klöster und Kutten liegen und werdet wieder Christen.“ Die Botschaft des Augustinermönchs Luther fand schnelle Verbreitung in den deutschen Landen und zündete in den Seelen der Ordensangehörigen wie Feuer in trockenem Reisig.
Eine wahre Flucht aus den Klöstern setzte ein. Luther selbst nahm seine Aufforderung nicht so ernst. Er blieb noch hinter den schützenden Klostermauern und legte die Kutte erst ab, als er Katharina von Bora kennenlernte. Vier Jahre nach seiner Schrift über das Mönchstum heiratete Luther sie.
Doch zunächst musste deren Flucht gelingen, die rettende Stadt erreicht werden. „Stadtluft macht frei“ – dieser mittelalterliche Grundsatz sollte für die entsprungenen Nonnen eine besondere Bedeutung erhalten. Gleichzeitig ist Katharina voller Angst: Angst vor Gott. Wird er sie, die ihr heiliges Versprechen gebrochen hat, bestrafen? Muss sie in der Hölle braten und schmoren? Sie hat aber vor allem Angst vor den menschlichen Strafen. Die können grausamer und sadistischer sein als alles, was der Herr im Himmel für Sünderinnen vorgesehen haben mag. Entlaufene Nonnen, die wieder hinter dicken Klostermauern verschwinden, müssen lebenslang bei Wasser und Brot büßen. Fluchthelfern droht noch Schlimmeres: Auf die „Entführung“ von Nonnen steht nach weltlichem und kirchlichem Recht die Todesstrafe.
Es haben sich dennoch einige Männer gefunden, die bereit sind, den Frauen zu helfen. Leonhard Koppe, Ratsherr zu Torgau, wird sie mit einem Planwagen in die Stadt bringen. Endlich haben alle zwölf das Klostergelände verlassen – waren es nicht auch zwölf Apostel, die ihrem Gewissen gehorchten und ihr gewohntes Leben zurückgelassen haben, um Jesus zu folgen?
Katharinas Augen suchen die dunkle Landschaft ab. Schließlich entdeckt sie den „Entführer“ mit seinem Wagen. Jetzt ist nicht die Zeit für große Worte. Schweigend kriechen die ehemaligen Nonnen unter die Wagenplane. Intensiver Fischgeruch schlägt ihnen entgegen. Der Wagen hat Heringsfässer geladen. Der Ratsherr bedeutet den Frauen, sich dahinter zu verstecken. Katharina von Bora hat den Geruch von Hering vermutlich ihr Leben lang nicht vergessen, hat er doch die wichtigste Reise ihres Lebens begleitet: die Reise vom Kloster in die (relative) Freiheit.
Während Katharina durch die sächsische Landschaft rumpelt, wandern ihre Gedanken zurück zu jener Nacht, in der sie zum ersten Mal die „ketzerischen“ Thesen Luthers mit eigenen Augen gelesen hat. Ein Stück Pergament, trotz der Gefahr, hart bestraft zu werden, ins Kloster geschmuggelt. Ave von Schönfeldt, die heute unter den Flüchtlingen ist, hat es gehütet wie einen kostbaren Schatz. Katharina, ihre Freundin, sollte selbst sehen, welche schier unglaublichen Lehren dieser Martinus Luther verbreitet. These 32: „In Ewigkeit werden diejenigen mit ihren Lehren verdammt werden, die glauben, dass ihnen aufgrund der Ablassbriefe ihr Heil sicher ist.“ Eine Ungeheuerlichkeit. Jedes Kind kannte den ehernen Grundsatz: „Wenn die Münze im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer springt.“ Wie sonst sollte man die hohen Kosten der heiligen Kirche finanzieren?
These 36: „Jeder Christ, der wahre Reue empfindet, hat vollständige Vergebung von Strafen und Schuld, die ihm auch ohne Ablassbriefe gehört.“
Martin Luther hat dem Papst, dem Unfehlbaren, dem Prächtigen im fernen Rom, den Fehdehandschuh mitten ins Gesicht geworfen. Eine bange Frage beschleicht Katharina: Ist der
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