Affinity Bridge
Stimme.
»Miss Hobbes, machen Sie bitte Platz.« Sie stand auf und wandte sich
an Doktor Mason, der sich mit ernstem Gesicht vorgebeugt hatte. »Ich glaube,
Sie sollten jetzt gehen, Miss Hobbes. Ihre Schwester ist hier in guten Händen.«
Veronica betrachtete Amelias zuckenden Körper, den inzwischen ein kleines Heer
von Schwestern niederhielt, und war hin- und hergerissen.
»Wirklich, es ist am besten so. Wir können ihr in dieser
unglücklichen Episode beistehen, und danach braucht sie Ruhe.« Endlich hatte
der dunkle Mann in dem braunen Anzug einmal eine freundliche Miene aufgesetzt.
Veronica sah ein, dass er ihrer Schwester wirklich helfen wollte. »Sie können
Amelia in einer Woche wieder besuchen. Ich bin sicher, dass sie dann wieder gut
beieinander ist. Bei schönem Wetter dürfen Sie sogar im Lichthof einen
Spaziergang machen.« Er lächelte. »Aber jetzt müssen Sie gehen. Ich begleite
Sie zum Ausgang.«
Veronica gab nach und warf einen letzten Blick zu ihrer Schwester,
während Doktor Mason sie zur Tür führte. Als sie schon beinahe drauÃen war,
rief Amelia sie.
»Veronica!«
Erschrocken fuhr sie herum. Amelia versuchte, sich aufzurichten und
ihre Schwester anzublicken, während die Wärterinnen sie unten halten wollten.
Die Augen waren immer noch verdreht, auÃer einem milchigen Weià war nichts zu
erkennen, und doch schien Amelia Veronica im Türrahmen direkt anzublicken.
Erschrocken flüsterte die ältere Schwester: »Amelia?«
Die Antwort bestand aus einem gequälten Keuchen, als wollte sich das
Mädchen mühsam aus einem Albtraum befreien. »Es ist in ihren Köpfen, verstehst
du das nicht, Veronica? Das musst du doch erkennen!« Dann setzten die Krämpfe
wieder ein, und Doktor Mason nahm Veronica kopfschüttelnd am Arm und führte sie
zum Ausgang des Krankenhauses, damit sie den schrecklichen Anblick ihrer
leidenden Schwester nicht länger ertragen musste.
DrauÃen drehte Veronica sich noch einmal zum Heim um und wischte
mit dem Taschentuch die Tränen ab, die sich immer wieder in den Augenwinkeln
bildeten. Der Uhrenturm verriet ihr, dass es schon fast zwei Uhr am Nachmittag
war. Es wäre sicher klug, in ihre Wohnung zurückzufahren, falls Newbury sie
rufen lieÃ. Was in diesem schrecklichen roten Ziegelbau mit ihrer Schwester
geschah, gefiel ihr überhaupt nicht â ohne vernünftige Gesellschaft, ohne
anständige Kleidung und in jeder Beziehung missachtet in einer geschlossenen
Abteilung eingesperrt. Ihre Eltern hatten ihr sogar verboten, dieses Thema überhaupt
zur Sprache zu bringen, nachdem Veronica sich anfangs vehement gegen die
Entscheidung gewehrt hatte, Amelia der Obhut dieser Fremden zu überlassen.
Infolgedessen hatte sie seit mehr als zwei Monaten keinen Kontakt mehr mit
ihren Eltern gehabt, und die beiden hatten es auch nicht für nötig befunden,
Amelia nach deren Einkerkerung im September zu besuchen. Bald würde Veronica
ihnen schreiben und darauf beharren müssen, dass sie dass Heim besuchten und
nach ihrer Tochter sahen. Amelia hatte so schon genug zu leiden. Es war
ungerecht, dass auch noch Scham, Schuldgefühle und Zurückweisung dazukommen
sollten.
Veronica nahm sich zusammen und ging über den Kiesweg zum Ausgang
des eingefriedeten Geländes. Links von ihr lag der Lichthof, eine groÃe
gepflasterte Fläche, wo die Patienten sich bewegen konnten, wenn das Wetter gut
genug war, um nach drauÃen zu gehen. Sie lächelte. Nächste Woche würde sie
wieder hierher nach Wandsworth fahren, mit Amelia über den Hof spazieren und die
Blumen und Vögel bestaunen, wie sie es getan hatten, als Amelia noch ein kleines
Mädchen gewesen war. Damals hatte Veronica sie morgens oft zu kleinen Ausflügen
auf den LandstraÃen in der Nähe ihres Elternhauses mitgenommen. Bis dahin
wollte sie sich mit Newbury auf den Fall konzentrieren und gründlich über
Amelias Ausbruch nachdenken. Während sie ging, klangen ihr immer noch die Worte
in den Ohren: »Es ist alles in ihren Köpfen, verstehst du das nicht?«
Sie hatte keine Ahnung, was dies zu bedeuten hatte, ob es nur das
Gestammel eines verstörten, verängstigten Menschen war, oder etwas anderes, das
sich auf die unmittelbare Zukunft bezog.
Die Zeit würde es zeigen.
12
Am nächsten Tag wachte Veronica früh auf und beschloss,
direkt nach dem Frühstück das
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