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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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langem führte er einen Auftrag aus, an dessen Wortlaut er sich nicht erinnern konnte. Er wusste nur noch, dass er so viele Menschen wie möglich töten sollte. Diese Aufgabe hatte er sich schwieriger vorgestellt, als sie tatsächlich war. Er hatte angenommen, die Menschenjagd würde für ihn eine einzige Hetzerei über die Dächer der Stadt sein, doch da war er einem gründlichen Irrtum erlegen. Es hatte sich herausgestellt, dass die Menschen viel einfacher zu jagen waren als Vögel. Sie machten nicht etwa einen großen Bogen um das Gebäude, auf dem er Stellung bezogen hatte, sondern blieben hübsch brav in seiner Schussweite. Und das Merkwürdigste war, dass ganze Familien kamen, vollzählig vom Kleinkind bis zum Großvater, und sich von ihm abschießen ließen. Sobald sie getroffen waren, machten sie Bewegungen, als winkten sie ihm dankbar zu, liefen ein paar Schritte über den Gehsteig und stolperten sinkend um die Straßenecke aufs Pflaster. Und schon kam die nächste Familie. Der Heckenschütze hatte den Eindruck, als begehe die Bevölkerung von Sarajevo kollektiven Freitod. Ihn selbst jedoch betrogen sie schmählich um das Jagdvergnügen. Aus dem Heckenschützen war unversehens ein völlig überarbeiteter Scharfrichter geworden. So machte ihm die Sache keinen Spaß mehr. Er hatte sie jagen wollen, ihnen erst einmal vor die Füße schießen, damit sie vor ihm davonrannten, der zweite Schuss sollte vielleicht die Hand streifen, der dritte in den Bauch treffen. Einen langsamen, qualvollen Tod hatte er ihnen bereiten wollen. Sie aber schleppten sogar ihre Kranken und Krüppel an und legten sie ihm zu Füßen, als wäre er ein Wunderheiler. Er fühlte sich von ihnen geprellt. Schließlich war er so verärgert, dass er nicht auf die nächste Familie zielte, sondern den Lauf seiner Waffe in den Himmel richtete auf einen vorüberziehenden Vogel. Er drückte ab, aber der Vogel flog weiter. Das war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht widerfahren, dass er ein lebendes Ziel verfehlt hatte! Seine Hand begann zu zittern, nervös zuckte sein Augenlid hinter dem Zielfernrohr. Die Freude an der Jagd war immer sein ein und alles gewesen. Seine Opfer hatten sie ihm genommen, den Lebensnerv hatten sie ihm abgeschnitten. Sie hatten ihn umgebracht, nicht er sie. Er hatte ihnen nur einen Dienst geleistet und ihnen den Freitod ermöglicht. Resigniert legte er die Waffe an und schoss die Familie ab, die immer noch die Straße entlangschlenderte. Jeder empfing seine Kugel, machte zum Dank eine Verbeugung, lief sterbend um die Ecke. Eine qualvolle Weile verging, ohne dass ein Mensch die Sterbebühne betrat. Alles war totenstill, kein Laut, keine Stimme ist zu hören. Da tauchte ein Mann an der Straßenecke auf. Vorsichtig betrat er die leere Straße. Horror und Entsetzen standen ihm im Gesicht geschrieben. Vielleicht war er der letzte überlebende Einwohner Sarajevos. Vielleicht sollte ihn der Heckenschütze am Leben lassen, damit er noch jemanden zum Reden hatte und nicht am Ende ganz allein dastand. Doch das Blut schoss ihm heiß in die jagdhungrigen Glieder. Er vergaß seine Bedenken und Befürchtungen, sammelte all seine Kräfte und Mordgelüste und drückte ab. Die Kugel schlug einen Schritt neben dem Mann in den Asphalt. Genau das hatte er gewollt. Sein Opfer sollte in Panik vor ihm zu fliehen versuchen. Der nächste Schuss streifte einen Arm. Hocherfreut sah der Heckenschütze das zu Boden tropfende Blut und bemerkte darüber gar nicht, dass er selbst ebenfalls an einer Hand blutete. Die dritte Kugel drang in den Oberschenkel ein, und der Mann auf der Straße brach auf der Stelle zusammen. Voller Genugtuung beobachtete der Heckenschütze, wie sein Opfer verzweifelt versuchte, auf allen Vieren weiter zu kriechen. Doch dass seine eigene Hose sich am Oberschenkel von seinem eigenen Blut dunkelrot verfärbte, darauf achtete er nicht. Das vierte Geschoss traf den Mann mitten in den Leib, er krümmte sich im Todeskampf und rührte sich nurmehr mühsam. Blut rann auch dem Heckenschützen über den Bauch, ohne dass er sich dessen bewusst wurde. Er spürte nur, dass er sich bei dieser Jagd völlig verausgabt hatte. Total erschöpft beschloss er, seinem Opfer den Gnadenschuss zu geben. Aber vorher wollte er ihm einmal ins Gesicht sehen. Er rannte im Nu die Treppen hinunter, lief zu ihm, drehte ihn auf den Rücken, und augenblicklich war ihm, als blicke er in einen Spiegel. Erst in diesem Moment empfand er brennenden Schmerz, der ihm die

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