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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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Bilder schießen wollte. Soll ich durchsehen oder soll ich nicht, fragte sie sich, ich mag eigentlich gar nicht mehr hindurchsehen. Ach was, schalt sie sich, es ist dein Job, und entschlossen fasste sie das Okular ins Auge. Zunächst sah sie nur eine verlassene Straße, überschattet von grauen, Regen verheißenden Wolken, entdeckte aber bald im unteren Blickfeld eine Straßensperre, die bei ihrem letzten Zimmeraufenthalt noch nicht an dieser Stelle gewesen war.
    Da kam eine Gestalt um die Straßenecke. Sie ging auf die Wegblockade zu, blieb stehen. Anica erkannte entgeistert, dass es einer der jungen Männer aus dem Blutspendenspot des Fernsehens war. Das muss Damir sein, erinnerte sich die Journalistin an Raifs Bemerkung, der Blutspender, allerdings hatte er sich von seinen schwarzen Locken getrennt. Der junge Mann nahm eine Maschinenpistole vom Rücken in Anschlag, als ein weiterer junger Bursche auf die Straßensperre zukam. Mein Gott, dachte Anica, der andere, es ist nicht zu fassen! Sie identifizierte ihn eindeutig und noch bestürzter aus der gesicherten Erinnerung durch seine blonde Bürstenfrisur als den Blutspendenempfänger Mirko. Um seinen Hals baumelnd bemerkte Anica ein grobgliedriges Goldkettchen mit einem Balkenkreuz. Was dann geschah verlief so blitzschnell, dass die Journalistin fürchtete, bei jedem Schlag ihrer flatternden Augenlider ein Detail zu verpassen. Damir drückte aus der Hüfte ab, schoss Mirko mit einem langen Feuerstoß nieder. Und er ahnt nicht einmal, fuhr es Anica durch den Kopf, dass sein eigenes Blut aus den Adern seines Opfers floss. Damir warf achtlos seine Waffe weg, überwand Mirko und die Straßensperre mit einem ungestümen Sprung und wollte um die Ecke flüchten, als ihn noch die tödliche Kugel des Heckenschützen ereilte.
    Plötzlich schrie Mirko laut auf vor Schmerz. Anica brachte es nicht fertig, sich abzuwenden. Sie wusste, er würde solange schreien, bis er tot war, wie das Auto, das neulich unvermittelt aufhupte, zunächst ganz laut, dann immer leiser werdend, bis die Batterie völlig leer war. Mirkos Stimme würde allmählich leiser werden, schließlich verstummen, wenn seine Lebensbatterie vollständig ausgelaufen war. Schrecklich, einen Menschen so sterben zu sehen, ohne etwas für ihn tun zu können. Es schmerzte Anica, und gleichzeitig konnte sie sich des Frohgefühls kaum erwehren, nicht an seiner Stelle zu sein. Er musste starke Schmerzen verspüren, und sie konnte ihm nur wünschen, dass er schnell starb. Brüllend und keuchend kroch, schleppte sich Mirko über den Gehsteig, Anica sah ihm nach, bis er um die Straßenecke verschwunden war.
Fassungslos trat die Journalistin von dem Teleobjektiv zurück, alles Blut schien aus ihrem Schädel gewichen und sie verkroch sich, an jeder Faser ihres Körpers zitternd, unter die Bettdecke. Sie wartete auf den Schlaf, der sie für wenige Stunden von der bedrückenden Wirklichkeit befreien würde. Sobald sie die Augen schloss, hörte sie Geräusche. Leise, säuselnde Laute, unmöglich voneinander zu trennen und zu verstehen, als Begriff oder Bedeutung nur zu wähnen, da sie in eben der Melodie gewispert wurden, die alle Ängste in sich bargen. Undeutliches Gemurmel sickerte aus unentdeckbaren Winkeln hervor, kleine atemlose Pausen drängten sich dazwischen und fütterten das unverstehbare Geraune mit Bedeutung. Immer wieder schlug Anica die Augen auf, stets genau bei dem Atemzug, der ihr Schlaf bescheren sollte. Beim ersten Mal begnügte sie sich damit, die Nachttischlampe anzuknipsen, beim zweiten Mal stützte sie den Oberkörper auf die Hände, beim dritten Mal stand sie auf und kontrollierte die Verschlossenheit der Tür, und beim vierten Mal schob sie den Stuhl unter die Türklinke. Es half ihr nicht. Sobald sie wieder unter der Decke lag, die Leuchte gelöscht und sich unter der Bettdecke zusammengekrümmt hatte, fing das Zimmer von Neuem an zu murmeln. Sie hielt die Augen geschlossen, und nach einer Weile, einer kleinen Ewigkeit, gesellten sich schwarzweiße, bewegliche Bilder zu den Lauten.
    Der Heckenschütze saß auf dem Dach gegenüber dem Apartmenthaus hoch über der Straßensperre und konnte sich nicht recht freuen über seinen Treffer, den er gelandet hatte, und keineswegs der MP-Schütze, der nur durch die Ladehemmung des Präzisionsgewehrs mit dem Leben davongekommen war. Er sah durch das Zielfernrohr als hätte er nur ein einziges Auge, das ihm mitten im Gesicht saß, ähnelnd Polyphem, dem Zyklopen. Seit

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