Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Beklemmung auf ihrem Gemüt.
„Na, prima“, sagte der Offizier, sah auf die Uhr. „Aber es kann sich noch ein wenig hinziehen.“
Die Journalistin durchlebte eine schleppende, öde Wartezeit in einem niedrigen Raum, fensterlos, von einer kleinen schwachen Glühbirne mehr verdüstert als erhellt, kühl, nach abgestandenem Zigarettenrauch stinkend. Alle zehn Minuten ging sie auf dem Gang zwischen Sandsäcken auf und ab, hockte sich in einen leeren Container, platziert unter Sandsäcken. Am Ausgang standen zwei Birken dicht beieinander, in die sich graue Krähen sammelten. Ihr ständiges Krächzen nervte sie. Warum waren hier so viele Krähen? In ihr steigerte sich die Angst, dass Leichen von Geflüchteten sie angelockt haben könnten.
Anica kam zum Bewusstsein, dass gerade hier der einzige Fluchtweg aus Sarajevo herausführte. Über dieses Aerodrom, „über die Piste“, wie die Leute sagten, flohen die Hauptstädter aus der Umzingelung. Nur wenige Kilometer entfernt lag der Fuß des Berges Igman, das Gebiet, das die BiH-Truppen hielten, die Streitkräfte des Staates Bosnien-Herzegowina. Nachts schlichen die Flüchtenden durch das menschenentleerte, zerschossene, von den Serben kontrollierte Gelände drumherum bis an den Flughafen. Scheinwerfer bestrahlten kreisend die Start- und Landebahn. In die dunklen Lücken zwischen den Lichtkreisen rannten die Flüchtlinge, um die Piste zu überqueren. Wenn das Licht sie erfasste, liefen sie Gefahr, von den serbischen Scharfschützen getroffen zu werden. Anica hatte den trotzigen Spruch öfters gehört: „Dann gehe ich eben über die Piste!“ Es sagten dies meist jüngere Menschen wie eine todesmutige, desperate Ankündigung oder Leute, um der Vergewisserung Ausdruck zu verleihen, dass sie keinen Ausweg mehr sahen.
Mittlerweile führte ein langer Tunnel unter dem Aerodrom hindurch. Er war schon ein offenes Geheimnis in Sarajevo, der sich allmählich zum Mythos verklärte. Der weitläufige, 760 Meter lange Stollen war in aller Heimlichkeit gegraben worden, genauer gesagt, unter den abgewendeten Augen der UN-Besatzung. Er erschien in gebetsmühlenartiger Regelmäßigkeit auf der Liste der serbischen Vorwürfe gegen die UNO wegen Parteinahme, doch die Vorhaltungen mussten als rein rhetorisch gelten, gehörte es doch offensichtlich zu den Kriegsregeln der Machtinhaber aller Parteien, der jeweils anderen Seite gewisse Zugeständnisse einzuräumen, um im Gegenzug entsprechende Ausnahmen zugebilligt zu bekommen. So war die Kontrolle des Flughafens durch UNPROFOR France erkauft worden durch einen Vertrag mit den Tschetniks, der jegliche Nutzung der Start- und Landbahnen untersagte – ausgenommen die Serben und die UN. Doch erlaubte es die Versorgung Sarajevos durch Tunnelleitungen mit Benzin, Wasser, Strom, und zwar über den Berg Igman.
Die Journalistin hatte zum Winterende eine Familie durch den Tunnel begleitet: Man konnte zum Teil aufrecht gehen, zur Mitte zu wurde der Gang niedriger, an manchen Stellen sammelte sich das herunter tropfende Sickerwasser, Holzroste waren ausgebreitet. Durch diesen Tunnel wurden Menschen geführt und Lebensmittel und nicht zuletzt Waffen nach Sarajevo hinein verbracht. Das alles lief ausschließlich nachtsüber ab. Für die lange Tunnelpassage existierte eine ebenso lange Warteliste Fluchtwilliger. Einen Platz auf der niemals endenden Teilnehmerliste musste man teuer, und zwar in Devisen bezahlen. Passierscheine bei der Tunnel`kontrolle´ waren zu haben für 20 bis 40 Tausend – Deutschmark versteht sich oder entsprechende Dollarbeträge! Es gab nicht wenige Tunnelschmuggler die Dollar- oder DM-Millionäre wurden, während die arbeitsamen Tunnelgräber maximal eine Schachtel Zigaretten bekamen und rasch wieder arm und vergessen wurden. Flüchtling sein hingegen war ein Privileg begüterter Leute, ein unerreichbarer Status für Habenichtse. Anica hatte den Fluchtzoll für diese Familie mit einer Handvoll Kinder übernommen, um die Reportage verwirklichen zu können, ihr gesamtes Honorar war dafür draufgegangen. Raza Pozderac, die Frau des Elektronik-Technikers, hatte ihr deswegen Vorhaltungen gemacht: Die Heimat sei doch kein Scheck, den man einfach in ein fremdes Land überweisen könne. Raza fand den Entschluss, ins Ausland zu gehen, falsch, ja feige, hielt ihn für eine missratene Frucht, jahrelang gereift im Leib der Interesselosigkeit. Von außen seine Heimat zu verändern, war in der Tat noch niemals gelungen, vom Ausland
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