Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
der Muriden
Unterwegs zum Stari Grad vernahm sie das Dröhnen von Trommeln. Es kam aus einem geräumigen Innenhof, der zwei Straßen unter ihr unter freiem Himmel lag. Anica blickte durchs Teleobjektiv, war sofort gebannt. Eines dieser diskreten Tekke, dachte sie, freilich gar nicht besonders verschwiegen, was ein unheimlich beeindruckender röhrender Gesang bekundete. Da kann ich jetzt Marter- und Folterszenen erleben von heilsgewissen Jüngern, die sich dermaßen in den Glauben an Allah und seinen Propheten vertiefen, dass sie imstande sind, Verletzungen zu ertragen, körperliche Tortur und Pein auf sich zu nehmen, die für den normal Sterblichen unerträglich sind. Aber sie hatte gehört, dass diese Muriden – wie die Heiligen durch inbrünstige Meditation und Konzentration auf Allah geübt – im Besitz wären einer seelischen Kraft, die sie gegen Schmerzen immun machte. Kein abgefeimtes Zaubertreiben sei das wie etwa bei den Fakiren oder Sadhus Indiens, sondern der Ausdruck göttlicher Berufung und Gnade.
Was sie nun sah, erlebte sie aus einem Abstand von hundert Metern Luftlinie, doch durch das Objektiv zum Greifen nah, und sie fragte sich, wie unmittelbar sich das westliche Europa in direkter Nachbarschaft, ja nahezu in Symbiose mit dieser undurchdringlichen islamischen Welt befand. Und hatte nicht gerade das christliche Oberhaupt in Rom einen gewissen Pater Pio heiliggesprochen, der wegen seiner martialischen Wundmale an Händen und Füßen, dem gekreuzigten Jesus nachempfunden, freilich mehr vom Volk als von der Kurie verehrt wurde?
Unten stimmten die Derwische im Chor den Dhikr an, die unermüdliche Beteuerung der Einzigkeit Allahs. Etwa zweihundert Männer hatten sich im Karree versammelt. Die Gemeinde steigerte sich allmählich in expressive Erregung, schließlich in Trance. Mehrere junge Männer wanden sich wie Epileptiker, verfielen in krampfartige Zuckungen und wurden von ihren Kameraden festgehalten. Anica ließ die Kamera mitlaufen, zoomte. Der Reporterin fiel besonders eine ekstatische Gruppe junger Männer auf, die das wirre Haar bis über die Schultern trugen und diese Mähne durch abrupte Verbeugungen immer wieder wie einen Vorhang über das Gesicht fallen oder um den Kopf kreisen ließen. Der Anblick dieser Zottelsufi mutete befremdend, beinahe schon dämonisch und heidnisch an. Nach endloser Inkantation eines Vorbeters, der Einstimmung und mentalen Konzentration dienend, begannen die Muriden mit ihren Vorführungen.
Das abstoßende Spektakel vollzog sich in Großaufnahme direkt vor Anicas Augen sozusagen: Der erste Derwisch zeigte mit großer Geste zum Beweis ihrer Echtheit eine lange Neonröhre herum, bevor er sie Stück für Stück in sich hinein mampfte. Die Journalistin blinzelte, es war unappetitlich genug, doch dann drängte sich ein Besessener vor, der einen spitzen Eisenstab tief in einen Augenwinkel und endlich durch den Rachen bohrte, wobei ein Assistent mit groben Hammerschlägen nachhalf, so dass die Spitze unterhalb der Kehle wieder zum Vorschein kam. Anica sah Bluttropfen, derweil ein weiterer Muride schon ein Päckchen Rasierklingen öffnete, sie mit dem Daumen auf ihre Schärfe prüfte, ehe er sie sich in den Mund steckte, sie zerkaute und herunterschluckte. Die Reporterin vermochte durchs Teleobjektiv etliche Blutspuren im weit aufgesperrten Rachen zu erkennen. Unterdessen durchbohrten junge Männer ihre nackten Brustkörbe mit langen Metallstangen. Ein Feuerfresser bot sein Handwerk dar, das auch auf westeuropäischen Jahrmärkten vorzufinden war. Zum Schluss trat ein etwa zehnjähriger Junge auf eine Empore und durchdrang seine beiden Wangen mit einem dünnen Aluminiumrohr, ohne dass dabei ein Tropfen Blut vergossen wurde. Hernach wurde der Knabe vom Scheikh dieser Tekke liebevoll in die Arme geschlossen.
Anica war höchst unwohl bei diesem ekelerregenden Exhibitionismus, der unheilvollen Pseudomystik, die mit der betonten Nüchternheit der echten islamischen Frömmigkeit nicht das Geringste gemein hatte. Misslich angerührt, ja angewidert setzte sie ihren Weg fort.
39 Ruhe vor dem Sturm?
Auf ihrem Hotelzimmer zog die Reporterin ihren Overall aus, um sich gleich zur Ruhe zu legen. Routinemäßig wollte sie durch das Teleobjektiv sehen, hielt jedoch inne, weil ihr einfiel, dass immer etwas passierte, so oft sie hindurchsah. Sie gab sich gleichsam die Schuld an den schrecklichen Ereignissen, die scheinbar nur deshalb geschahen, weil sie mit ihrem Teleobjektiv
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