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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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schrillen Muezzins ratifizierten sie von den speerschlanken Minaretten herab mit Gebeten zu Allah, die Soldaten bestätigten sie von Panzern aus mit lauten Jubelrufen und feierlichen Flüchen, doch die Sarajlije, Sarajevos Einwohner, wollten der Sache nicht recht trauen. Erst nachdem sie sich versichert hatten, dass nicht mehr auf sie geschossen wurde, begannen sie rasch zu gehen, und es sah so aus, als würden sie etwas suchen. Sie waren auf der Suche nach ihren Toten. Und sobald sie einen gefunden hatten, blieben sie wortlos stehen, knoteten ein Ende des Stricks um dessen Knöchel oder Brustkorb, nahmen das andere Ende über ihre Schulter und schleiften ihn weg wie einen Schlitten. Tote zu finden war nicht schwer. Wo man auch hinschaute, überall sah man einen liegen.

5 Eine tödliche Straßenkreuzung
     
    Die Kriegstage in Sarajevo empfand Anica wie alle Menschen als unterschiedlich. An manchen verlustreichen Tagen stumpften einige Leute derart ab, dass ihnen erst später und allmählich aufging, was sich ereignet hatte und wer im einzelnen nicht mehr war. An anderen Tagen, zwischen den Angriffen, wussten sie bei aller gegenteiligen Hoffnung, dass es viele unvermeidbar treffen würde. In länger anhaltender Waffenruhe stellte sich bei allen das normale menschliche Empfinden wieder ein. Die Nachricht „sie oder er ist tot“ nahm man auf ganz neue Art auf und man wurde sich bewusst, was es hieß, dass ein Mensch plötzlich aus dem Leben gerissen wurde. Alles war still, man selbst lebte, und auf einmal war ein anderer tot, er musste überführt und begraben werden, wo er doch vor ein, zwei Stunden, noch recht lebendig war und nicht sterben wollte, gleichwohl sagte man: „Falls es die Granate gibt, auf der mein Name steht, wird sie mich finden, ob ich mich im Keller verstecke oder auf offener Straße gehe.“
    Auf der nächsten Kreuzung kam der Verkehr ins Stocken, Anica war gezwungen zu halten, und als sie einem Lieferwagenfahrer Zeichen machte, um sich zu erkundigen, was passiert sei, übertönte eine befehlsgeübte Stimme aus dem Megaphon ihre Worte. „Halt! Stehenbleiben! Keine Bewegung!“ schallte es über den ganzen Platz. Und was sich nun abspielte, machte der Reporterin endgültig zutiefst bewusst, dass ihr Leben hier in Bosnien-Herzegowina endgültig in zwei Teile zerfallen war, zwischen denen es keine Verbindung gab: in den, der in der Vergangenheit ihr Leben in Freiheit bedeutet hatte, und in jenen, der im allgegenwärtigen Krieg ihr Leben ausmachte.
    Anica sah einen lang aufgeschossenen jungen Mann im Kampfanzug mitten auf die Kreuzung rennen. Er hatte die Arme und Beine eines Riesen, aber auf seinem langen Kinderhals saß ein kleiner, nach Rekrutenart geschorener Kopf. Wütend stampfte er mit den Füßen, wild fuchtelte er mit den Armen herum und schrie den wieder niedrig über die Stadt einschwebenden Transportflugzeugen zu: „Auf sie, macht sie fertig!“
    „Verrückt gewordener Legionär“, erklärte der Lieferwagenfahrer. „Seine Nerven sind vom Granathagel zerrüttet.“
    Der verwirrte Verstand des Legionärs erfasste alles verkehrt: Die ihn umstanden, hielt er für Feinde, die Transportmaschinen hingegen für eigene Kampfflugzeuge. Kaum konnte er gebändigt, nur mit Mühe festgehalten werden. Nun stand er da, kreideweiß, am ganzen Leib schlotternd. Sein Blick saugte sich abwechselnd an dem eingetroffenen bosnischen Offizier mit dem Megaphon und an der Reporterin fest, die ihr Kameraobjektiv auf ihn gerichtet hielt, und er fauchte sie an: „Warum habt ihr euch verkleidet, ihr Tschetniks? Ich erkenne euch trotzdem! Verfluchte Tschetniks! Wozu diese Maskierung?“
    Alle Versuche, ihn zu beruhigen und ihm klarzumachen, dass er bei Seinesgleichen sei, schlugen fehl. Je mehr auf ihn eingeredet wurde, desto stärker loderten die Funken des Wahnsinns in seinen Augen. Er sah sich ruckartig um, sprang unvermittelt zur Seite, riss einem Soldaten das Gewehr von der Schulter und lief in langen Sätzen zur Häuserwand.
    „Haut ab!“ kreischte seine irre Fistelstimme, so laut, dass jedermann ringsum dieses nicht mehr menschliche Heulen vernahm.
    „Rettet euch! Die Tschetniks haben uns umzingelt! Rette sich, wer kann!“ Sich duckend und wieder aufrichtend sprang er über die Kreuzung, drohte blindwütig mit dem Gewehr an seiner Hüfte.
Ohne lange zu überlegen, griff der Offizier zu seiner Pistole. Als er sie mit etwas ungeschickt wirkenden Handbewegungen aus dem Futteral zog, verfing sich die Waffe

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