Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
manchmal die Liebe abhing.
Als er sie dann zu wecken versuchte, drehte sie sich – ohne aufzuwachen – um, stöhnte. Zuerst bedrohlich und heiser, doch dann so beklagenswert, dass es Dragan im Herzen schmerzte. Er war bereit, wenn es sein musste, noch eine volle Stunde oder länger bei ihr zu sitzen, ohne sie zu wecken. Aber da wachte sie auf. Aus der abgründigsten Tiefe ihres ausgelaugten Bewusstseins stieg etwas in ihr auf, was ihren Schlaf störte. Noch nicht richtig wieder bei wachen Sinnen, reckte und streckte sie sich, breitete die Arme aus und ließ sie heftig auf Dragans Schulter niedersinken. Sie presste mit klammernden Fingern seine Schultern zusammen und öffnete schlagartig die Augen. In ihnen lag kein Schlaf mehr und auch keine Verwunderung, nur Glück. Ein solch grenzenloses Glück, wie es Dragan – wie ihm schien – in seinem ganzen Leben nie wieder vergönnt war, in den Augen irgendeines Menschen zu erblicken. Niemals würde er sich ein anderes Glück wünschen als dieses liebe, tränenfeuchte Gesicht, das so hingegeben an seine Wange geschmiegt war. Alles Schwere dieser schrecklichen Stunden rückte in unendlich weite Ferne.
Anica fielen erneut die Augen zu, und deutlicher denn je empfand Dragan, wie stark er sie liebte. Keine Spur von dem drückenden Gefühl, wenn da nur noch Mitleid für den Schwächeren blieb und das übliche, doch kaum mehr beglückende Verlangen nach Nähe. Es gab Männer, die sich Frauen überlegen fühlen mussten; Männer, die annahmen, Frauen hätten das Bedürfnis, zu ihnen aufsehen zu müssen. Er kannte genug, die so dachten, die eben darin höchstes Glück erblickten. Er selbst gehörte nicht zu ihnen. Nach dem Recht des Stärkeren zu leben ödete ihn an, zermürbte ihn, weil er das Fehlen innerer Gleichwertigkeit absurd fand.
Gedankenverloren verließ er das Bett, wusch sich mechanisch im Waschbecken. Das Plätschern des Wassers weckte sie. Lächelnd sah sie zu ihm auf.
„Schau nicht her“, knurrte er gespielt, „es gehört sich nicht, wenn du mich so ansiehst.“
„Dummerjan, du weißt gar nicht, wie gut du aussiehst.“ Sie sprang aus dem Bett, ließ Wasser ins Bidet laufen, wusch sich ebenso unbefangen wie er. „Ich habe Hunger, Dragan“, winselte sie.
„Ja, Anica, Liebes. Wie ein Raubtier“, knurrte er.
51 Mary-Jo´s Gefangenschaft
Mary-Jo Hayward-Ball waren lange Spaziergänge, geschweige denn Fußmärsche oder gar Bergtouren, immer ein Gräuel gewesen. Bereits als junge Frau hatte sie jede Möglichkeit wahrgenommen, das Auto zu benutzen, das Volljährigkeitsgeschenk ihres Pa, und sie pflegte auch in den ersten Stock eines Hochhauses den Lift zu nehmen. Außer in ihrer Grundausbildung, und die lag lange zurück, hatte sie es in ihrer Militärzeit kaum nötig gehabt, größere Strecken zu Fuß zurückzulegen. Seit ihrer Gefangennahme auf einem felsigen Hochplateau Bosniens hatte sich das grundlegend geändert.
Man brachte sie nach kurzer nächtlicher Floßfahrt südwestwärts, sie mutmaßte: zu einem muslimisch-bosnischem Stützpunkt in einem unzugänglichen Gebirgstal. Sie wurde registriert, einige Male vernommen und in einer von zwei Posten bewachten, ungeheizten Steinhütte untergebracht, die sie zweimal täglich zu ausgedehnten Bergwanderungen verlassen durfte. Sie erhielt den Rat, diese Bergtouren, bei denen sie von zwei Bewacherinnen in Uniform begleitet wurde, zur Körperertüchtigung zu nutzen. Sie ahnte, dass dieser Hinweis nicht grundlos erfolgt war, und erhielt schon drei Tage später die Bestätigung.
„Wir werden nach dem Frühstück einen Marsch antreten, der etwa eine Woche dauern kann“, sagte das Mädchen mit dem Knabenkopf zu ihr. „Das Ziel ist ein Stützpunkt jenseits der Berge auf ungefährdetem Territorium. Dort sind Sie sicher und dort werden Sie zunächst bleiben. Fühlen Sie sich gesund und kräftig genug?“
„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, erwiderte die Majorin, obgleich sie keine Beschwerden hatte. „Warum wird kein Fahrzeug benutzt?“
„Das geschieht nur zu Ihrer Sicherheit“, erwiderte die junge Frau, die Lepa Brena gerufen wurde. „Überall ziehen sich Kampflinien hin, die meisten Brücken sind zerstört, überhaupt die gesamte Infrastruktur, die wichtigsten Straßenverbindungen unterbrochen, ganze Landesteile voneinander isoliert, der jeweilige Feind vom Nachschub abgeschnitten. Ungefährdet sind allein die abgeschiedenen Bergregionen, deren Felsmassive natürliche Grenzen und Bollwerke
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