Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
bilden.“ Sie musterte die Gefangene abschätzend, ihr Gesicht verriet Intelligenz. „Ich werde Sie auch nicht antreiben. Wir werden regelmäßig Ruhepausen einlegen.“
„Sie müssen verstehen“, sagte Mary-Jo, „dass ich in diesem Land... die dünne Luft... ich bin das einfach nicht gewohnt.“
Die schöne Brena trug trotz der sommerlichen Jahreszeit eine Uniform aus Thermobaumwollstoff, die an verschiedenen Stellen geflickt war, jedoch so gut saß, dass man sie für maßgeschneidert halten konnte. Ihre Mütze war bräunlich und besaß ein helles Innenfutter. „Ich weiß es“, sagte sie ruhig, „und werde das berücksichtigen. Wir sind stets darauf bedacht, Ihnen Ihre Gesundheit zu erhalten. Genügt das?“
Mary-Jo fand keine Worte der Gegenrede. Die Soldatin befahl ihr, aus ihrem Eigentum ein kleines Bündel zu schnüren, das sie auf dem Rücken tragen konnte. Nach dem Frühstück brach man auf.
Zuerst schritten sie nebeneinander. Als die Pfade enger wurden und steiler, marschierte Mary-Jo voran, Brena folgte in geringem Abstand. Der Marsch führte zuerst ostwärts bergan. Ins Durmitor-Gebirge? Der Majorin war der Gedanke nicht geheuer. Je weiter sie sich von Sarajevo entfernten, desto geringer schienen ihr die Chancen, schnell dieser Gefangenschaft wieder zu entrinnen. Sie dachte an ihren Mann, kam ins Grübeln. Als hätte sie über alles nicht auch später, irgendwann in den nächsten Tagen nachdenken können, wenn sie wusste, wo sie dran war. Offensichtlich nicht. Gedanken kamen nicht nach Fahrplan. Die Ereignisse der letzten Tage tauchten auf, lösten einander ab, verwirrten sich in der Zeit.
Ihr fielen auch Dinge ein – ihr wachsendes Bankkonto, der aktuelle Dienstplan, der mögliche Zeitpunkt ihrer Demissionierung –, Dinge, die mit dem heutigen Tag anscheinend überhaupt nichts zu tun hatten. Anscheinend – denn da sie ihr einfielen, mussten sie wohl etwas damit zu tun haben.
Schlafprobleme hatte sie bislang nur kurzfristig bei Versetzungen – bis jetzt. Am neuen Ort schläft es sich schlecht, so heißt es. Doch traf das auf den Krieg nicht zu, sonst würde man sich im Krieg wohl das Schlafen abgewöhnen. Vielleicht lag es nicht am neuen Ort, sondern an den neuen Gedanken, die den schlaflosen Kopf im Wechsel mit den Erinnerungen überfielen.
Während des ersten Tages auf der Gebirgsstation hatte sie verzweifelt auf eine Fluchtmöglichkeit gelauert. Doch wurde sie gut bewacht und hatte zudem keine Ahnung, wo sie sich genau befand. Selbst wenn es ihr gelungen wäre zu entkommen, hätte sie Sarajevo niemals erreicht. Sie war an ihrer bleichen Hautfarbe und ihrer Kleidung eindeutig als Ausländerin und fremde Militärangehörige zu erkennen. In welchem Haus hätte sie auch nur ein Stück Brot erbetteln können? Es war aussichtslos, sah sie sehr bald ein.
Die Offiziere der bosnischen Armee, die sie verhörten, waren höfliche, aber hartnäckige Männer. Sie drohten nicht, und niemand machte den Versuch, sie auch nur zu schlagen. Sie unterbrachen die Vernehmungen regelmäßig, um ihre vorgeschriebenen Gebete zu verrichten. Die Soldaten betrachteten die Pilotin mäßig interessiert und lächelten verlegen, wenn sie sie mit einem Kopfnicken grüßte. Warum lächelten sie, grübelte sie anfangs, stand hinter diesem Lächeln das Wissen darüber, was bald sein würde? Warte, wenn sie sich dich erst mal richtig vorgenommen haben, wirst du wünschen, tot zu sein!
Der Kommandant des Stützpunktes hatte ihr allerdings unumwunden klarzumachen versucht, besser ihre Vorurteile über Bord zu werfen. „Gewöhnen Sie sich ab“, hatte er gesagt, „in barbarischen Kategorien über uns zu denken. Sie sind Gefangene. Wir haben Ihren Fall untersucht. Was Sie gesagt haben, entspricht der Wahrheit. Sie werden ein wenig Zeit haben, über die Folgen nachzudenken, die sich aus Ihrer Teilnahme an diesem Krieg ergeben. Nutzen Sie einfach diese Gelegenheit. Und was uns betrifft, so sind wir alles andere als rachsüchtige Vandalen.“
„Man hat anderes gehört“, wandte sie schnell ein.
„Frau, Sie wissen nicht, worüber Sie sprechen“, sagte er und lächelte. „Man hat unsere Mädchen und Ehefrauen geschändet, um uns unsere Lebensgrundlage zu nehmen; sie wollen uns an der Basis unseres Glaubens treffen, der uns verbietet, entweihte Lebensfrüchte zu genießen. Allah verbietet uns aber auch grundsätzlich zu töten und zu verletzen.“
„Auge um Auge...“, entgegnete Mary-Jo.
„...ist auch ein Spruch der
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