Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Bibel“, sagte er. „Sie aber brauchen keine einzige Sure des Korans zu fürchten.“
„Das will ich gerne glauben“, sagte Mary-Jo hastig.
„Sie glauben es nicht, Frau. Man kann es Ihnen ansehen. Doch eines Tages werden Sie es nicht nur glauben, sondern aus Erfahrung wissen.“
„Meinen Sie?“ fragte Mary-Jo. Ihre Stimme enthielt eine Spur wiedergewonnener Sicherheit.
„Sehen Sie, jetzt sind Sie ehrlich“, sagte der bosnische Offizier. „Sie zweifeln. Das ist menschlich. Lassen Sie sich von mir einen guten Rat geben, Frau: Versuchen Sie nie, uns etwas vorzumachen. Wir haben Augen im Kopf und einen gesunden Menschenverstand. Was Sie denken, kann man so deutlich von Ihrem Gesicht ablesen wie ein Sternbild auf dem Nachthimmel.“
„Wenn ich ehrlich sein soll“, sagte Mary-Jo, „dann bewegt mich die Frage schon, warum man sich nicht schon längst an mir vergriffen und mich erschossen hat.“
„Es würde in das Bild passen, das Sie von uns haben, Frau. Aber hören Sie, es wäre für uns einfacher gewesen, wenn Sie beim Absturz Ihrer Maschine den Tod gefunden hätten. Gefangene bedeuten für uns in erster Linie eine erhebliche Belastung. Doch es ist Allahs Wille gewesen, dass Sie leben, also teilen wir mit Ihnen das wenige, das wir haben. Zufrieden?“
„Ich weiß nicht...“, sagte Mary-Jo. „Es gibt Berichte...“
„...über massenhafte Morde, Amokläufer, Vergewaltigungen, Kinderschänder, Hinrichtungen, Terrorakte und Milzbrandanschläge im Satellitenfernsehen, die sich auf das Land beziehen, aus dem Sie hierhergekommen sind. Ist es nicht so? Leider sind auch hierzulande die Menschen nicht alle frei von bösen Gedanken und Taten, die jetzt allerdings verstärkt zu uns hereingebracht werden.“
Mary-Jo schlug die Augen nieder. „Es tut mir leid...“
„Sehen Sie es doch so“, sagte der Offizier, „Sie sollen das lebendige Beispiel abgeben für die übrige Welt, dass wir nicht die Barbaren sind, als die wir von unseren Feinden hingestellt werden. Vielleicht beantwortet das Ihre Frage.“
„Besteht denn keine Möglichkeit, mich unter Umständen auszutauschen?“
„Sie wissen doch selbst, welche Art Krieg hier geführt wird. Man gefällt sich darin, einmal mit uns zu verhandeln, das andere Mal eingegangene Verpflichtungen nicht einzuhalten, Versprechungen zu brechen, endlich Verhandlungen zu verschieben oder abzusagen. An welcher Stelle Sie auf der Tagesordnung rangieren, wenn nicht einmal mit Gesprächen begonnen wird, können Sie sich denken. Das ist sicher tragisch für Sie. Vielleicht tragen die Bürger Ihres Landes einmal zu Veränderungen bei. Sicher wird der weitere Kampfverlauf dazu beitragen. Aber wann das sein wird...?“
Dieser Unterhaltung mit dem bosnischen Offizier waren keine weiteren Verhöre mehr gefolgt, und nun fand sich Mary-Jo unversehens und zu ihrer Verwunderung ohne großes Gepäck auf den abschüssigen oder steilen Stiegen einer pittoresken Bergwelt, die sie mit ihrer Bewacherin am ersten Tage des Marsches beging. Bisweilen lag Detonationsgeräusch und Motorenlärm in der Luft. Mary-Jo hielt sehnsüchtig Ausschau nach den Fliegern, doch näher kamen sie nicht.
An einer Weggabelung entschied sich das Mädchen für die schmalere Abzweigung, die sich wie ein Band zwischen den Bäumen am Saum des Berghanges hinzog. Bald waren sie von der Düsternis des Waldes eingehüllt. Der Weg wurde rau und gefurcht, und das Licht war dort, wo es durchs Laub einfiel, weißer als bisher und greller. Der von der Spätsommersonne durchflutete Wald erschien Mary-Jo wundervoll. Es duftete nach Harz und warmem Moos. Die schrägen Sonnenstrahlen drangen zwischen den wippenden Zweigen hindurch, auf dem Erdboden tanzten helle, warme Flecken.
Gegen Mittag gelangten sie an eine Passstraße. Von weitem beobachteten sie einen Konvoi Lastwagen, zwischen denen sechsrädrige Panzerkübelwagen fuhren. Die weißlackierten Fahrzeuge wurden langsamer und kamen endlich vor der Passhöhe zum Stillstand.
„Fühlen Sie sich fit genug“, fragte Lepa Brena die Majorin, „noch ein oder zwei Stunden zu laufen?“
Mary-Jos Augen drückten Verlangen aus, als sie zu der Fahrzeugkolonne hinübersah, und sie war unendlich müde.
„Wir müssen die Passstraße überqueren“, sagte das Mädchen und bedeutete der Majorin mit dem Gewehr voranzugehen. „Und es ist besser, wenn man uns nicht sieht. Auf den Bergkämmen könnten serbische Heckenschützen liegen und auch die Blauhelme haben außerhalb ihrer
Weitere Kostenlose Bücher