Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
Fruchtsaftcocktails. Anica nahm eine von Kamensieks Mentholzigaretten und paffte gedankenvoll beim Zuhören, ohne den Rauch einzuatmen.
Was gingen nicht alles für Gerüchte und Redereien um, die es einen in diesen Tagen abwechselnd heiß und kalt werden ließen! Hätte man nur das Negative geglaubt, wäre man längst um den Verstand gekommen. Doch wenn man seinem Gedächtnis nur das Positive einprägte, musste man sich zu guter Letzt in den Arm kneifen: Warum denn nur war sie hier, warum musste sie hanebüchen Negatives erleben und unerhört Positives, warum war alles so und nicht anders?
Bisher hatte Anica gedacht, die Wahrheit über den Krieg ließe sich dazwischen finden, in der Mitte, doch allmählich erkannte sie, dass auch das nicht stimmte. Die unterschiedlichsten Menschen erzählten sowohl Gutes als auch Schlechtes. Doch nicht danach, wovon sie berichteten, sondern danach, wie sie es taten, verdienten sie Vertrauen oder sie verdienten es nicht.
Und das größte Vertrauen unter allen verdienten jene, die sowohl das eine als auch das andere wussten, die aus eigener Erfahrung erzählen konnten, überzeugt davon, etwas zum Guten bewegen zu können. Ganz gleich, was sie erzählten, Gutes oder Schlechtes, stand hinter ihren Worten immer eine ehrliche Überzeugung, und sie enthielt viel Wahrheit über diesen Krieg.
„Wenn Sie verstanden haben, worum es geht, meine Liebe“, sagte Kamensiek schließlich ihren Gedankenfluss unterbrechend, „dann kann ich zufrieden sein. Sicher werden Sie jetzt begreifen, warum man sich über meine Person an Sie wendet. Doch jetzt schlürfen wir erst in Ruhe noch einen Cocktail. So viel Zeit muss sein.“
Anica dachte über Kamensieks Worte nach. Ob er gemerkt hatte, dass ich nicht ganz bei der Sache war? „Zudeck-Perron“, sagte sie beiläufig, „wird mit mir zusammen nach Srebrenica fahren.“
Kamensiek horchte auf. „Ist das der Mann, der auch mit zur Enklave Zepa war?“
„Feiner Tipp“, bestätigte sie nickend. „Wir sind froh, dass wir es wenigstens überlebt haben.“
„Die Drinks gehen auf mich“, sagte Kamensiek, hielt einen Augenblick inne. Sparks ist ein geriebener Hund, dachte er, hat sich Zudeck-Perron als zweiten Mann für die Sache ausgeguckt. Keine schlechte Wahl und die eigene Frau sagt von nichts. Dabei ist Zudeck-Perron weltbekannt seit der Golfgeschichte. Die Illustrierten reißen sich um seine Bilder. Was Zudeck-Perron ablichtet, kommt an. Will sich die berühmte Nasenlänge Vorsprung verschaffen, der gute alte Sparks. Doch für diese Chose hier wird es nicht von Bedeutung sein.
„Sind Sie mit Zudeck-Perron befreundet?“ fragte er, nachdem er die Journalistin ins Bild gesetzt hatte.
„Bekannt“, antwortete Anica einsilbig.
„Wissen Sie, meine Liebe, es gibt Leute, die werden mit Reporterblut in den Adern geboren. Was einer wie Zudeck-Perron fotografiert, kann man ohne Text drucken.“
„Er ist nicht unclever“, bekräftigte sie nicht unironisch, „und hat seine Verbindungen.“
„Ich dachte, er mag Sie“, äußerte Kamensiek. „Also gut. Kann ich mit Ihnen rechnen?“
„Ja“, erwiderte die Journalistin.
„Dann kann es losgehen. Gleich morgen früh.“
Die Journalistin atmete auf, innerlich, ohne es sich anmerken zu lassen, ballte unter dem Tisch die Faust. Endlich hatte die Warterei ein Ende. Auf den Knaller bist du gespannt, sagte sie zu sich selbst auf dem Motorroller.
62 Raza und Raif
Zunächst galt es für Anica, zwei Versprechungen einzulösen: die Besuche bei Burkhart und dem Computertechniker Raif.
„Dobar dan“, sagte sie, als sie in der ersten Etage der Werkstatt stand. „Es ist so weit.“
Raifs Frau Raza lud sie zum Melonenessen ein. Auf dem Tisch stand wie immer ein Gedeck mehr für einen möglichen Gast, und die Frucht war so riesengroß, wie Anica noch nie eine gesehen hatte. Zum beginnenden Mittsommer hatte Raif sie in Stroh eingeflochten an der Kellerdecke aufgehängt. Wäre Anica nicht mehr gekommen, so hätte sie wohl länger noch dort gehangen. Freilich bat die Dame des Hauses die Gästin zunächst in die Küche zu der wartenden Schüssel voll warmen Wassers – ein Kleinod in dieser Zeit, in der das kostbare Nass von den Menschen mit Kanistern von Wasserstellen abgeholt werden musste. Doch aufs Händewaschen sollte deswegen nicht verzichtet werden; denn die Sarajlije in der Altstadt ihrer Metropole hielten fest an ihrem traditionellen Stil, den sie seit je kultivierten. Die Hausfrau, dezent
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