Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
geschminkt, nahm ein Messer, machte einige geschwinde Einschnitte und ließ die Melone plötzlich fallen, so dass sie auf dem Servierbrett von selbst auseinanderfiel, gleich einer großen Tulpe mit riesigen Blütenblättern. Anica spürte körperlich schmerzhaft die ungeheure Diskrepanz zwischen der knallgrünen Schale und dem scharlachroten Fruchtfleisch. Jeder aß eine Schnitte, als sei jetzt Frühherbst und nicht Hochsommer. Die Melone schmeckte überaus angenehm, wenn auch ein wenig bitter.
„Jugoslawien war wie ein Garten voller wunderbarer Blumen“, sagte Raza, „und niemand störte sich am Duft einer anderen Blüte. Es war sogar befruchtend, wer frei genug war, flog in diesem Garten von einer dieser Blüten zur anderen.“
Ihr Mann Raif nickte schmatzend dazu.
„Hat die Welt uns denn ganz vergessen?“ fragte Raza. „Oder sind wir hier in Sarajevo nur ein Experiment, ein übergroßes Laboratorium, in dem sich studieren lässt, wie lange es braucht, bis sich eine moderne Stadt ins Mittelalter zurückentwickelt hat?“
„Tatsächlich kommt es uns so vor“, fuhr Raif fort, „als beobachte man uns via Satellit durch ein Riesenmikroskop, wie wir allmählich zu Steinzeitmenschen mutieren, wie wir unser Mobiliar verheizen, die Hochhäuser verlassen, mit Plastikkanistern zu weit entfernt liegenden Wasserstellen laufen, vergessen, was eine Dusche ist, mit verfilzten Haaren herumlaufen, um Früchte und Samen zu sammeln.“
„Man beobachtet uns auch aus den Zielfernrohren vom Berg“, nahm Raza wieder das Wort. „Bei Tag und bei Nacht, denn sie haben Eulenaugen, die bekanntlich im Düstern zu sehen vermögen. Sie können zu jeder Zeit jeden einzelnen von uns hier unten erkennen. Jeder von uns hat mindestens einen Bekannten auf dem Igman: Ob er mich sieht durch sein Visier? Wird er mich schonen? Oder gar abdrücken, wenn er mich erkennt?“
Anica schwieg betroffen. Razas Blick standzuhalten, fiel ihr schwer. Sie hatte Raifs Frau bisher kaum Beachtung geschenkt, ihre herbe Schönheit nicht bemerkt, das dunkelhäutige Gesicht mit der ein wenig knolligen Nase, die wachen, intelligenten Schwarzaugen, die graumelierten Kraushaare, das aparte Damenbärtchen über der Oberlippe.
„Infrarot-Nachtsichtgeräte“, erklärte Raif in abschätzigem Tonfall. „Und alles schreit dann nach Vergeltung.“
„Öfter frage ich mich“, sagte Raza, „warum es überhaupt Vergeltung geben muss.“
„Wie soll ich das verstehen?“ fragte ihr Mann verwundert.
„Wieso sich erst Schulden aufhalsen“, antwortete Raza, „um sie dann zu tilgen?! Wäre es nicht auch anders gegangen?“
„Ein berechtigter Gedanke. Nicht umsonst warnt Allah durch den Prophet davor, sich Schuld aufzuladen, wie er den Gewinn bringenden Verleih von Geld untersagt. Darin ist die Keimzelle des Unheils angelegt. Aber jetzt ist es nicht mehr die Zeit, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Alles nimmt seinen Lauf.“
„Niemals werde ich aufhören, daran zu denken. Auch wenn der Krieg zu Ende ist, werde ich noch daran denken, und zehn, zwanzig Jahre danach ebenfalls noch.“
„Das glaubst du jetzt, Liebes“, sagte Raif. „Wenn es erst mal soweit ist, werden wir an ganz andere Dinge zu denken haben.“
„Zum Beispiel wie die Menschen miteinander auskommen wollen“, mischte sich Anica ein. „Bei allen kulturellen, religiösen und ökonomischen Unterschieden.“
„Bitte, Anica!“ entgegnete Raza scharf. „Was weißt du schon davon? Dein Grundirrtum ist die idyllische Idee eines multikulturellen Bosniens, in dem unterschiedliche Völker friedlich zusammenleben, was den staatstragenden Nationen Gesamt-Jugoslawiens hingegen ja nicht mehr zuzumuten war. Dieselben Leute, die die slowenische und kroatische Sezession so eifrig betrieben und freudig begrüßt haben, klammern sich an die Utopie eines Staates, in dem eine Volksgruppe eine andere, größere regieren oder zumindest moderieren soll. Man kann nach den Lehren der demokratischen Außenpolitik in einem Gebiet nicht zwei verschiedene, sich widersprechende Prinzipien gleichzeitig anwenden.“
„Allerdings wurde der Staat Jugoslawien erst nach dem Ersten Weltkrieg begründet“, warf Raif ein, „während Bosnien-Herzegowina seit jeher ein Land mit eigener historischer Identität und langer Tradition der Toleranz im Zusammenleben unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen war. Wie dem auch sei: Die Anerkennung der Nachfolgestaaten Jugoslawiens bildete die Wurzel des politischen Versagens der EU
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