Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

und USA“, fügte Raif hinzu. „In einem Teufelskreis verdrängte die Anerkennung dann die Fragen, die den Krieg hier ursprünglich verursacht haben. Und sie verletzte auch die jahrhundertealte internationale Rechtstradition, keine separatistischen Truppen in einem Bürgerkrieg anzuerkennen, ehe sich nicht die Gemüter beruhigt haben.“
„Was wir brauchen“, sagte Raza, „ist Freiheit, die Freiheit nämlich miteinander zu leben oder aber auch auseinander zu gehen, ohne Privilegien für irgendeine Nation, für irgendeine Sprache; ohne die geringste Beschränkung und ohne die kleinste Ungerechtigkeit gegenüber einer nationalen Minderheit. Kurz: absolute Demokratie und Selbstbestimmung.“
    „Bravo“, zollte ihr Mann Hände klatschend Beifall, „du hast deinen Lenin noch drauf. Und wir sollten die Toleranz nie vergessen; ich persönlich bin nicht gottgläubig und schon gar nicht ideologiegläubig, da ich freilich tolerant sein will, kann ich nicht ausgerechnet den Gläubigen gegenüber intolerant sein.
    Doch was wird kommen, wenn der Krieg vorbei ist?“
    „Politiker und Wirtschaftsbosse, die korrupter sein werden, als sie je in Jugoslawien waren“, sagte Raza.
    „Die Vergangenheit wird nie vorbei sein“, sagte Raif. „Der Weg in die Zukunft führt immer nur über die Vergangenheit.“ Unvermittelt griff er in die Tasche seines weißen Arbeitskittels, zog ein Kalenderbüchlein heraus, blätterte, bis er eine Skizze gefunden hatte. „Also das ist der Ort“, erklärte er, sich unvermittelt an Anica wendend und fuhr mit dem Zeigefinger über das Papier. „Und auf dieser Straße kommt man zu dem Gefängnisbau.“
„Was für Aufnahmen brauchst du, Raif?“
    „Du bist als offizielle TV-Reporterin bei der Inspektion der UN mit dabei, richtig?“
    „Es ist ein quasi diplomatischer Auftrag. Papa Staat, also der deutsche Michel, erwirbt die Rechte an den Aufnahmen der TV-Kamera exklusiv. Weiß der Himmel wofür. Aber in meinem Handtäschchen hat er nichts verloren.“
    „Wir wären dir sehr dankbar, wenn du deine Kamera weniger auf die Offiziellen halten würdest, sondern mehr auf die Gefangenen. Viele Mütter, Kinder und Frauen warten auf deine Bilder und hoffen auf diese Weise Lebenszeichen von ihren Männern zu erhalten. Deine Filmaufzeichnungen sollen dann aber auch in die Dokumentation für das Tribunal einfließen.“
    „Gut“, sagte Anica. „Das kriege ich schon hin. Und die Aufnahmen?“
„Lass dich sehen, wenn du zurück bist“, bat er und klappte den Notizkalender zusammen. „Noch eins: Hast du eine Gasmaske?“
„Was soll ich mit einer Schnüffelbüchse?“ fragte sie erstaunt. „Mit Einsatz von Kampfgasen ist doch wohl nicht zu rechnen.“
    „Hat man dir nicht gesagt, dass du dich auf Überraschungen gefasst machen musst?“ erkundigte er sich und reckte sich zu einem Regal hinauf. „Es gibt Tränengas, Lachgas und was sie sich noch alles einfallen lassen.“ Er reichte ihr zwei Beutel. „Hier, nimm. Eine als Ersatz.“
    „Von dieser Art Überraschung war nicht die Rede“, sagte sie. „Es hieß: `Nice surprice´ und gemeint ist irgendein Popanz oder Monstrum, wonach die Aktion benannt wäre, wir würden schon sehen, und lohnen würde sich die Sache allemal.“
    „Nice“, sagte er, „nett. Wirklich nett ausgedrückt.“ Er hielt einen Augenblick bedeutungsvoll inne. „Weil du es bist, will ich dich nicht dumm sterben lassen und sage dir zweierlei: Zum einen handelt es sich um ein animalisches Kuriosum: Der Gefängniskommandeur hält sich einen Hund. Doch ist es kein gewöhnlicher Köter, sondern ein großer Bastard mit mehreren Köpfen, wie es heißt, ich persönlich glaube, eine Missgeburt mit lediglich zwei Häuptern. Aber du wirst ja sehen.“
    „Wie schön. Kann´s kaum erwarten. Und zum zweiten?“
    „Hör zu: Das Areal östlich von Srebrenica ist ein Gefangenenlager mit einem Industriegelände drum herum. Doch liegt das Kaff unmittelbar unter dem strategisch wichtigen Pass, den sie Pass der Nebelwölfe nennen. Hüben Bosnier, drüben Serben. Wenn beide Seiten ihr militärisches Vorfeld verteidigen oder erweitern wollen, brauchen sie diesen Pass. Die bosnischen Muslime wollen ihn behalten und die Serben ihn erobern, weil er in ihre Tintenfleckstrategie passt, somit also vor allem das Städtchen, das ihn blockiert. Als Zugabe die Gefängnisfeste.“
    „Und was bedeutet das für mich?“
    „Wenn du mich ständig unterbrichst...“, erwiderte Raif und griente. „Pass auf: