Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
erkennbar stets als Vorgefecht für eine neue mörderische Schlacht herausstellt. Man spricht hier offen über reale Bedingungen für die Befreiung sämtlicher bosnischen Städte. Von dieser Seite aus betrachtet, muss man sich freilich nicht darüber wundern. Wird ein Staat aus der Taufe gehoben, dessen mehr als halbes Territorium in Händen anderer ist, mit denen man nicht mehr verhandeln will, dann führt das unweigerlich zu weiteren Gewalttaten. Die IWF- und Weltbankpolitik der Vorkriegsjahre gegenüber der alten SFR Jugoslawien erscheinen heute in einem ganz anderen Licht wie auch die weitere Einmischungs-, Interventions- und sogenannte Anerkennungspolitik von EU, UN, NATO und anderen Kürzeln, hinter denen sich handfeste wirtschaftliche Interessen verbergen... Mach Dir keine Sorgen: Ich bin nicht krank und die kleinen Verletzungen sind ausgeheilt. Vielleicht fliegst Du besser nach Hause. Auf jeden Fall musst Du Dad schreiben, dass es mir gut geht und dass ich jede Sekunde an ihn denke, wie auch an Dich. Lasst Euch beide umarmen und küssen von immer Eurer Mary-Jo.“
Anica legte die Seiten sorgfältig zusammen. Burkhart saß ihr gegenüber, die Hände auf den Knien gefaltet.
„Wirst du nach Hause zurückkehren?“ fragte sie.
„Ich werde auf sie warten“, antwortete er dumpf. „Obwohl ich ihr nicht helfen kann hier. Doch leider habe ich nicht nur eine Frau in Bosnien-Herzegowina, sondern auch noch einen Bruder.“
„Ja“, sagte die Journalistin und zupft sich das Ohrläppchen.
„Wann gehst du nach Srebrenica, Anica?“
„Morgen.“
„Endlich. Hier hast du einen Brief für ihn, für den Fall, dass du zufällig auf ihn triffst. Ich hoffe, er wird ihn überzeugen zu demissionieren.“
„Soll ich deinem Brüderchen etwas ausrichten, wenn ich ihn ausfindig gemacht habe?“
Burkhart schüttelte den Kopf. „Gib ihm den Brief. Ich überlasse es deinem Instinkt, ihm zu sagen, was zu sagen ist. Aber, du musst jetzt gehen“, sagte Burkhart düster. Er ließ den Kopf hängen, noch als er die Journalistin aus der Haustür geschoben hatte.
64 Anicas Hotelzimmer
Auf ihrem Zimmer im Gasthaus Stari Grad bereitete sich Anica vor auf das Unternehmen `Srebrenica´. Sie zog sich um, duschte, prüfte ihre Ausrüstung, in erster Linie ihre Kameras. Der Artilleriebeschuss hatte ausgesetzt und war wieder der spannungsgeladenen Stille, der sogenannten Waffenruhe, gewichen, die anders war als jede andere Ruhe. Die Menschen entbehrten die früher vertrauten Alltagsgeräusche, des Straßenverkehrs und der fliegenden Händler, und sehnten sich geradezu nach dem Knattern von Presslufthämmern, das sie sonst bis zum Wahnsinn gestört hatte. Doch so entsetzlich das klingen mochte, immerhin bedeutete es Arbeit, normales Leben. Die Journalistin vermisste einen Nachbarn aus dem Nebenhaus mit seinem Lachen, das klang wie eine Schimpfkanonade; wenn er hingegen wirklich einmal schimpfte, hörte es sich an, als habe gerade ein Blutbad stattgefunden. Anica vermisste auch den Besitzer einer Stereoanlage, der sein Gerät zu allen möglichen und unmöglichen Tag- und Nachtzeiten auf vier Lautsprechern dröhnen ließ. Alles, was ihr zuvor lästig gewesen war, fehlte ihr jetzt irgendwie, obwohl sie hätte daran gewöhnt sein müssen. Auf dem Balkan wechselten seit jeher kürzere Zeiten heftiger oder zumindest sehr lautstarker Kämpfe ab mit Perioden, in denen wenig oder gar nichts geschah. Der Rhythmus der Kampfhandlungen hatte oftmals mehr mit dem lokalen Granatenvorrat zu tun als mit strategischen und politischen Überlegungen. Mindestens ebenso wichtig war die Sicherheit, dass es sich teilweise um Soldaten handelte, die vom Krieg lebten: Zu allen Zeiten waren Söldner vor unnötigen Risiken zurückgewichen. Nur die anderenteils ideologisch-religiös Motivierten kämpften bis zum letzten Mann, bis zum letzten Blutstropfen.
Anica steckte mehrere Ersatzakkus ein, warf gedankenverloren einen Blick durchs Teleobjektiv der Kamera am Fenster. Der Wolkenhimmel im Osten war von Licht zerrissen, als ob er auf entzückende Weise irrsinnig würde, und die Elektrodrähte vom Hotel zum schräg gegenüberliegenden Apartmenthaus zerschnitten ihn blindlings, verliehen ihm eine besonders barbarische Note. Auf einem Balkon des obersten Stockwerks flatterten nun schon seit Tagen Kinderkleidchen an der Leine im frischen, trockenen Wind. Entweder wagte es die Mutter nicht, sie hereinzuholen, oder die Familie hatte das Viertel längst verlassen. Doch
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