Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
da wurde unversehens die Balkontür einen Spalt breit aufgeschoben. Ein Kopf tauchte auf, prüfend zum wolkenreichen Himmel empor gerichtet, und verschwand sogleich wieder. Eine feingliedrige Hand tastete ängstlich nach der Wäsche, dann erschien der gerundete Bauch einer Schwangeren auf dem Balkon und machte sich hastig daran, die trockenen Kleidungsstücke abzuhängen. Einige Wäscheklammern fielen der Frau aus den zitternden Händen. In ihrer Haltung, in ihren Bewegungen wirkte sie wie eine Diebin. Anica beobachtete sie mit Beklemmung und der Befürchtung, der werdenden Mutter könne ein Leid geschehen. Urplötzlich zerriss ein Schuss die Ruhe des Straßenzugs. Die Schwangere sank hinter der Balkonbrüstung in die Knie, wobei ihr Kopf kurz noch einmal auftauchte, dann entschwand die Frau dem Blick der Journalistin. Himmel noch mal, dachte sie, der Heckenschütze lässt grüßen! Mördergrüße. Niemand wird sich jetzt noch hinaus auf seinen Balkon trauen. Ob der Schuss die schwangere Frau getroffen, womöglich getötet hat, oder vielleicht gar ihr ungeborenes Kind? Ihr Mann hat jetzt sicher Angst, seine Frau hereinzuholen. Die Balkontür stand offen, nichts bewegte sich, nur die Stimme eines weinenden Kindes war zu hören. Möglicherweise war es das Kind, das jetzt nicht nur auf seine Kleidung, sondern auch vergeblich auf seine Mutter würde warten müssen.
Makabererweise kam Anica der Gedanke an Selbsttötung in den Sinn. Man bräuchte nur über die Straße zu gehen, und ein Geschoss würde sich mit Gewissheit einem in den Schädel bohren. Der Gehsteig gegenüber kam der Journalistin vor wie das Sprungbrett in die Ewigkeit und der Straßenasphalt wie das schlammgraue Wasser des Stromes in die Unterwelt. Anica sah auf die Uhr, und ihre Gedanken wanderten von ihrem Roller auf dem Parkplatz über verdreckte Straßen hin zu der Stadt Srebrenica.
65 Das Monstrum
Wie viele Menschen neigte auch Anica zu der Überzeugung, grundsätzlich Herr ihres eigenen Schicksals zu sein, obschon sie nicht an Zufälle glaubte und zuweilen sich des Gefühls nicht erwehren konnte, in Wirklichkeit eher der Spielball von Umständen zu sein, auf die sie keinen Einfluss hatte; stets aber ergaben sich für die Journalistin die aufrührendsten und gleichzeitig faszinierendsten Situationen. Der Plot aller Top-Nachrichten im Fernsehen und der meisten Kinofilme war wesentlich auf solche Elemente aufgebaut. Geriet man jedoch leibhaftig in Geschichten dieser Art und reflektierte sie im Nachhinein, empfand man die Faszination freilich mit gehörigem Grausen. War man der Auffassung gewesen, sich offenen Auges auf eine Sache eingelassen zu haben, erfuhr man mit nackter Schmerzlichkeit, dass vor den Augen statt durchsichtiger, manchmal rosaroter Gläser sich Monitore befunden haben mussten, auf denen ein Hollywood-Spektakel übelsten Kitschs abgelaufen war. Diese Erkenntnis war Anica mehr als ärgerlich, nicht deshalb, weil sie daran nichts mehr ändern konnte, sondern dass sie es so lange nicht bemerkt hatte. Sie, die distanzierte, neutrale Beobachterin, fand sich – wenn auch unbeabsichtigt, ja unwissentlich – geschlüpft in die Rolle einer Mitwirkenden bei einem martialischen Melodram.
Das Flimmern der Luft weit vor dem Wagen ließ die Reporterin die Augenlider zusammenkneifen. Die Reifen schwirrten wie zur zusätzlichen Untermalung der Radiomusik. AFN Saratoga unterhielt seine Hörerschaft mit Hit-Tunes. Die Stimme der Moderatorin erinnerte Anica schwach an irgendetwas, das sie momentan nicht bestimmen konnte. Aus dem Lautsprecher tönte die eindringliche Warnung in ihr Ohr, geparkte Autos abzuschließen und aufgebrochen angetroffene Fahrzeuge zunächst nach Bomben zu untersuchen, ehe man sie bestieg. Weiterhin wurde empfohlen, außerhalb geschlossener Ortschaften ausschließlich im Konvoi zu fahren und in Gaststätten niemals Gepäck und Waffen aus den Augen zu lassen. Dann verlas die angenehme Mikrophonstimme die Nachrichten.
Der Alptraum, schoss es Anica durch den Kopf, es wird ein Alptraum, und sie fühlte mit allen Fasern ihrer Sinne, wie die ferngeglaubte Zukunft herbeigerückt und zur unmittelbaren Gegenwart geworden war. Endlich Srebrenica, dachte die Journalistin, freilich nicht ohne Skepsis; niemals machte sie sich Vorstellungen von dem, was sie erwartete, gleich an welchem Ort und zu welcher Zeit, und doch vermochte sie die entsetzlichen Traumbilder nicht aus ihrem Bewusstsein zu verbannen.
Die Journalistin hatte sich dem
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