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Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)

Titel: Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Norbert F. Schaaf
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man sich gepanzerter Fahrzeuge, Infrarotgewehre und elektronisch gesteuerter Raketen und bevorzugte nächtliche Kampfeinsätze mit Leuchtspurmunition, um der irrsinnigen Abstraktion der Gemetzel zu entfliehen. Anica zeichnete mit der Kamera Geschichte auf, eine grauenerregende Historie aus vermeintlichen Siegen und uneingestandenen Niederlagen in einem Kampf, der ihrer Meinung nach lange von der übrigen Welt vorauszusehen, in seiner Tragweite missdeutet, jedoch nach Kräften geschürt worden war. Dann waren die unvermeidlichen Appelle gefolgt, die Völkergemeinschaft müsse eingreifen, und man nannte die Kriegseinsätze unter dem blauen Helm friedenserhaltende Maßnahmen. Die Menschen empfanden diesen Militärapparat gleichwohl als Angriff auf ihre Selbstbestimmung und als bewaffnete Erpressung, von der sie sich in die Knie zwingen lassen sollten. Dass Erfolg den Aggressor ermutigte, war eine alte Erkenntnis im Land der Partisanen, die bis heute organisiert waren in Veteranenverbänden, um die Erinnerung an erlittene Schmach wachzuhalten, und als Mahnung, dass der Versuch, den Aggressor beschwichtigen zu wollen, anstatt ihm mit Bestimmtheit entgegenzutreten, noch niemals honoriert worden war. Musste indessen der Angreifer, der sich über alle rechtlichen Gegebenheiten und selbstverständlichsten Gesetze der Menschlichkeit hinwegsetzte, eine militärische Niederlage einstecken, erlitt nicht nur des Gegners Prestige, sondern vor allem sein Eroberungsdrang einen empfindlichen Schlag. Doch nichts konnte wirklich dazu beitragen, die Kriegsgelüste zu dämpfen, wenn alle Seiten die Rechtmäßigkeit ihres Handelns ausschließlich für sich in Anspruch nahmen. Das Land war ein Flickenteppich der gegensätzlichsten und widersprüchlichsten Interessen und Ansprüche, die oft ethnisch oder religiös begründet wurden, im Grunde hingegen vorwiegend materiell ihren Ursprung hatten: Es ging um Besitz und Macht und die Menschen, die daran hingen – direkt als Eigentümer oder im Abhängigkeitsverhältnis von ihnen.
    Der Sommer ist schnell vorbei, dachte Anica. Noch drei Monate oder etwas mehr, dann setzten die ersten Herbstregen ein. Erst jedoch kam die Bora, ließ die Menschen erstarren unter ihrem orkanartigen, kalten Fallwind. Dann würden schwere, graue Wolken über das Land treiben, es aufweichen und manche Wege unpassierbar machen, bis der Winter alles in erzene Kälte goss: die bizarre Topografie des Landes, mehr noch aber die Gemüter seiner Bewohner. Dennoch würde es genug Menschen geben, die weiterhin mit erkalteten Herzen ihre Waffen auf ihre Nachbarn abfeuerten, oft als Heckenschützen feige aus der Deckung von Beton und Fels. Kein Autokonvoi, kein Transportflugzeug mit Hilfsgütern würde vor den Männern sicher sein, die aus dem Hinterhalt kamen, ausgenommen die Nachschublieferungen an Waffen und Munition. Die Militärmacht der Vereinten Nationen würde ein zerschlissenes Netz bleiben von bedrohten Stützpunkten, hinter deren Wällen und Panzerwagen die fremden Soldaten dieses Land verfluchten, seine Bewohner und sein Klima, seine Hitze und seine Kälte, seine Flüsse und seine Schluchten, seine verhängnisvollen Tage und unerbittlichen Nächte.

12 Lynchmord
     

    Was Anica dann hinter der nächsten Flussbiegung erblickte, vertrieb jäh jeden Gedanken aus ihrem Kopf. Sie zuckte zusammen, erschrak und erstarrte, ihre Augen blieben gebannt nach oben gerichtet. Man hatte vier Menschen, drei Männer und eine Frau, an einem Galgengerüst aufgehangen. Einige der Soldaten beleuchteten die schaurige Szene mit Scheinwerfern, damit andere Fotos von den bedauernswerten Opfern machen konnten. Der Hauptmann stand daneben, rieb sich die Hakennase und sah zu. Als er die Journalistin bemerkte, gab er hastig einen Befehl, und Anica beobachtete mit Schauder, wie die Soldaten die Erhängten von diesem gesetzwidrigen, jedem Rechtsempfinden hohnsprechenden Hochgericht herunterholten.
Anica löste sich aus ihrer Erstarrung und zerschnitt das vierfach zusammengedrehte Fernsprechkabel, an dem die Frau hing, genauer gesagt, das Mädchen, denn nach dem jungen, porzellanweißen toten Gesicht zu urteilen, handelte es sich wirklich noch um ein Mädchen. Mit einem Messerschnitt durchtrennte die Reporterin den letzten der vier Kabelstränge, ließ sich die Tote in die Arme gleiten und legte sie ins Gras. Zaghaft berührte sie mit zwei Fingern die zerbrechlich wirkende Stirn des Mädchens und streichelte zart die feine durchsichtige Haut. Anica

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