Afghanistan, Srebrenica & zurück (German Edition)
traten Tränen in die Augen. Armes Mädchen, trauerte sie, was ist das für ein Leben, das dich zu einem solchen Ende geführt hat? Alles, was mit diesem Augenblick verbunden war, die Gedanken, das Gesehene, die Gefühle, der Kummer, alles prägte sich Anica gewiss für alle Zeit ins Gedächtnis. Die Mädchenleiche trug einen dunkelblauen Mantel aus grobem, dünnen Baumwolltuch, auf der Brust aufgeknöpft, darunter kam eine gestrickte Bluse zum Vorschein; ein Bein steckte in einem knallroten, oben ungleichmäßig abgeschnittenen alten Gummistiefel mit einer halbabgerissenen, durch eine Schnur festgebundenen Sohle, während das andere nur mit zerschlissenem Nylon bestrumpft war, in Kniehöhe klaffte ein großes Loch, durch das die weiße, leblose Haut schimmerte. Das Fernsprechkabel hatte sich hässlich tief in den schönen, langen weißen Hals eingeschnitten, der Kopf des Mädchens lag immer noch ein wenig schräg zur Seite und nach unten, woher wahrscheinlich auch der Gesichtsausdruck rührte, der auszudrücken schien: Was wollen sie von mir, habe ich denn jemandem irgendetwas getan?
Die Gelynchten mussten schon eine Weile gehangen haben, denn beim Abnehmen waren sie leblos-kalt, starr und porzellanbleich, so dass Anica schien, als könne ein Stück vom Gesicht oder von den Händen abplatzen, wenn man sie unvorsichtig hinlegte oder sie irgendworan stieß. Die Journalistin wischte sich die tränennassen Augen aus, schüttelte entsetzt und betrübt den Kopf, auch weil sie daran dachte, dass diese Menschen kürzlich noch lebendig gewesen waren, jetzt aber nur noch ihre Leblosigkeit und ihre porzellanhafte Kälte in ihrer Erinnerung und auf den Fotos der Soldaten weiterexistierten.
Ein Pritschenwagen fuhr heran, und die Soldaten legten die Leichen der Gehenkten unter den inspizierenden Augen des Vorgesetzten auf die Ladefläche.
„Herr Hauptmann“, brachte die Journalistin vor, „warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an? Ihresgleichen foltern, schänden und meucheln?“
„Wir sind keine Mörder!“ entgegnete der Offizier entrüstet. „Erlauben Sie mal, Madam, diese Leute sind nicht von meinen Soldaten gehenkt worden. Überhaupt nicht von Soldaten. Das waren Zivilisten!“
„Und die Schindereien an den Leuten unten am Fluss? Sind das etwa nicht die Gewehrkolben Ihrer Soldaten? Und wollen Sie etwa behaupten, dass durch die Schüsse Ihrer Soldaten kein einziger Mensch getötet wurde?“
„Ich bin Soldat“, gab der Hauptmann zurück, und seine Augen waren ein schmaler Spalt. „Und Offizier. Ich erhalte Befehle, und ich gebe Befehle.“
„Denken Sie niemals über diese Befehle nach?“
„Das ist nicht meine Aufgabe. Und da ist auch kein Platz für Diskussionen. Ich habe meine Aufgabe, und ich verstehe, dass Sie die Ihre haben. Doch wenn Sie mehr wissen wollen, wenden Sie sich bitte an die Pressestelle des Oberkommandos. Da wird man Ihnen sagen können, wie mit Partisanen respektive Terroristen nach Kriegsrecht zu verfahren ist.“ Der Hauptmann grüßte linkisch, wenn auch vorschriftsmäßig, machte auf dem Absatz kehrt, entfernte sich zu seinem Funkunteroffizier.
Selbst schuld, sagte sich Anica, du weißt doch, wie wenig Sinn es hat, Führungsoffiziere zu fragen. Da erhältst du immer die gleichen nichtssagenden Phrasen zur Entgegnung. Halte dich an Martha Gellhorn, die erste Frau im Kriegsberichterstattergewerbe, die gesagt hat: `Glaube im Krieg keiner Führung, keiner einzigen, keiner militärischen und keiner zivilen, und kein einziges Wort.´ Und sie erinnerte sich an ihren amerikanischen Journalistenkollegen I.F. Stone, der einmal sagte, dass `jede Regierung aus Lügnern besteht. Nichts was sie sagen, dürfen wir glauben´. Warum also den Kompaniechef konsultieren, wende dich lieber an den gemeinen Soldaten, den sogenannten kleinen Mann oder Schützen Arsch.
Sie setzte diese Beherzigung sogleich in die Tat um und sprach die Soldaten an, die die drei weiteren Gehenkten von den Galgen abgenommen hatten. „Zasto?“ fragte sie. „Warum tun Menschen so etwas, ob mit oder ohne Uniform?“
„Befehl ist Befehl, Gospodjice“, antwortete der erste.
„Die anderen haben es bestimmt verdient“, äußerte der zweite.
„Wenn wir es verweigern, tun es andere; doch wir werden erschossen oder kommen zumindest hinter Gitter oder werden zu einem Himmelsfahrkommando befohlen“, erklärte der dritte.
„Was ich wissen will“, setzte die Reporterin nach, „ist, warum Menschen anderen Menschen so
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